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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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durch ihre Atomgewichte unterschieden.
    Der Chemiker W. K. Clifford brachte diese Komplexität 1870 durch eine der Musik entlehnte Metapher zum Ausdruck:
    … ein Piano muss im Vergleich zu einem Eisenatom ein sehr einfacher Mechanismus sein. Denn das Eisenspektrum bietet eine schier unübersehbare Fülle von separaten hellen Linien, von denen jede einer eindeutigen Schwingungsperiode des Eisenatoms entspricht. Statt der rund hundert Schallschwingungen, die ein Flügel aussenden kann, scheint ein einzelnes Eisenatom mehrere Tausend exakt festgelegter Lichtschwingungen zu emittieren.
    Damals war eine Vielzahl solcher Bilder und Metaphern im Umlauf, die sich alle mit den Verhältnissen, mit den Harmonien beschäftigten, die sich in den Spektren zu verbergen schienen, und nach einer Möglichkeit suchten, sie in einer Formel auszudrücken. Die Natur dieser «Harmonien» blieb bis 1885 im Dunkeln - bis es Balmer gelang, eine Formel zu finden, die die Positionen der vier Linien im sichtbaren Spektrum des Wasserstoffs zueinander in Beziehung setzte; eine Formel, die es ihm ermöglichte, die Existenz und Position weiterer Linien im ultravioletten und infraroten Bereich richtig vorherzusagen. Auch Balmer dachte in musikalischen Begriffen und fragte sich, ob es möglich sei, «die Schwingungen der einzelnen Spektrallinien gewissermaßen als Obertöne eines bestimmten Grundtons zu interpretieren». Dass Balmer auf einen Sachverhalt von fundamentaler Bedeutung gestoßen war und nicht einfach irgendeinen numerologischen Hokuspokus betrieb, wurde sogleich erkannt, doch die Bedeutung seiner Formel blieb genauso rätselhaft wie Kirchhoffs Entdeckung, dass die Emissions- und Absorptionslinien der Elemente gleich sind.
     
KAPITEL ACHTZEHN

KALTES FEUER
    Meine vielen Onkel, Tanten und Cousinen dienten mir als eine Art Archiv oder Handbücherei, es gab immer jemanden, an den ich mich mit einem bestimmten Problem wenden konnte: meistens an Tante Len, meine botanische Tante, die eine derart lebensrettende Rolle in den schlimmen Tagen von Braefield gespielt hatte, oder an Onkel Dave, meinen chemischen und mineralogischen Onkel, und schließlich an Onkel Abe, meinen Physikonkel, der mich auf die Spektroskopie gebracht hatte. Onkel Abe wurde selten als Erster konsultiert, weil er einer der älteren Onkel war, sechs Jahre älter als Onkel Dave und fünfzehn Jahre älter als meine Mutter. Er galt als der begabteste unter den achtzehn Kindern seines Vaters. Seine geistigen Fähigkeiten waren ganz außerordentlich, obwohl er sein Wissen durch eine Art Osmose erworben hatte, nicht durch reguläre Ausbildung. Wie Dave hatte er schon früh Geschmack an der Physik gefunden, und wie Dave war er in jungen Jahren als Geologe nach Südafrika gegangen.
    Die großen Entdeckungen - Röntgenstrahlen, Radioaktivität, das Elektron und die Quantentheorie - waren alle in seinen jungen Jahren gemacht worden und bildeten für den Rest seines Lebens seinen Interessenschwerpunkt. Außerdem hegte er eine Leidenschaft für die Astronomie und die Zahlentheorie. Er war aber durchaus in der Lage, sich auch praktischen und wirtschaftlichen Fragen zuzuwenden. So hatte er an der Entwicklung von Marmite mitgewirkt, dem weithin geschätzten vitaminreichen Hefeextrakt, der Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde (meine Mutter aß es für ihr Leben gern, ich konnte es nicht ausstehen), und als im Zweiten Weltkrieg normale Seife knapp wurde, half er, eine brauchbare fettfreie Seife zu entwickeln.
    Obwohl sich Abe und Dave in mancherlei Weise ähnelten (beide hatten sie das breite Landau-Gesicht, die weit auseinander liegenden Augen und die unverkennbare, volltönende Landau-Stimme - Merkmale, die noch die Ururenkel meines Großvaters aufweisen), waren sie in anderer Hinsicht sehr verschieden. Dave war groß und stark, mit militärischer Haltung (er hatte im Ersten Weltkrieg und im Burenkrieg gedient) und immer sorgfaltig gekleidet. Sogar an seinem Labortisch trug er einen Klappkragen und blank polierte Schuhe. Abe war kleiner, etwas knorrig und gebeugt (zumindest in den Jahren, in denen ich ihn kannte). Mit seinen braunen, angegrauten Haaren, der rauen Stimme und dem chronischen Husten wirkte er wie ein alter Großwildjäger. Er achtete kaum auf seine Kleidung, meist trug er einen zerknitterten Laborkittel.
    Formal waren sie beide Direktoren von Tungstalite, doch Abe überließ die wirtschaftliche Seite Dave und widmete sich ausschließlich der Forschung. Er hatte Anfang

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