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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Jahren dann die Edelgase.
    Doch die wohl romantischste Geschichte dieser Entdeckungen, jedenfalls diejenige, die mich als Jungen am stärksten ansprach, betraf das Helium. Lockyer selbst war es, der während einer Sonnenfinsternis im Jahr 1868 eine leuchtend gelbe Linie in der Sonnenkorona wahrnahm, eine Linie in der Nähe der gelben Natriumlinien, aber doch deutlich von ihnen unterschieden. Er glaubte, diese neue Linie müsse zu einem Element gehören, das auf der Erde unbekannt sei, und nannte es Helium (er gab ihm das metallische Suffix ium , weil er annahm, es handle sich um ein Metall). Dieses Ergebnis löste großes Staunen und Aufregung aus, und man vermutete sogar, jeder Stern habe seine eigenen besonderen Elemente. Erst fünfundzwanzig Jahre später fand man in bestimmten irdischen (Uran-)Mineralien ein seltsames, leichtes Gas, das rasch freigesetzt wurde. Als man es einer spektroskopischen Untersuchung unterzog, erwies es sich als eben dieses Helium.
    Das Wunder der Spektralanalyse, der Fernanalyse, schlug sich auch in der Literatur nieder. Ich hatte Unser gemeinsamer Freund von Charles Dickens gelesen (es war 1864, nur vier Jahre nach der Entwicklung der Spektroskopie durch Bunsen und Kirchhoff, geschrieben worden), und darin war von einer «moralischen Spektroskopie» die Rede. Mit ihrer Hilfe waren die Bewohner ferner Galaxien und Sterne in der Lage, das Licht der Erde zu analysieren und darin Gut und Böse zu bestimmen, mit anderen Worten, das moralische Spektrum seiner Bewohner zu erfassen.
    «Ich habe wenig Zweifel», schrieb Lockyer am Ende seines Buches, «dass das Spektroskop… im Laufe der Zeit… im Taschenformat zu unser aller ständigem Begleiter werden wird.» Jedenfalls wurde ein kleines Spektroskop mein ständiger Begleiter, der stets greifbare Schlüssel zu den Rätseln der Welt, der bei jeder Gelegenheit zum Einsatz kam: um das neuartige Fluoreszenzlicht zu betrachten, das damals in Londons U-Bahn-Stationen eingeführt wurde, um Lösungen und Flammen in meinem Labor zu analysieren oder um die Kohlefeuer und Gasflammen bei uns im Haus genauer in Augenschein zu nehmen.
    Außerdem untersuchte ich die Absorptionsspektren von Verbindungen aller Art, von einfachen anorganischen Lösungen bis hin zu Blut, Blättern, Urin und Wein. Fasziniert beobachtete ich, wie charakteristisch die Spektralfarben von Blut waren, selbst wenn es geronnen war, und wie klein die Menge nur sein musste, um es auf diese Weise zu analysieren - man konnte einen über fünfzig Jahre alten schwachen Blutfleck erkennen und ihn von einem Rostfleck unterscheiden. Das eröffnete ungeahnte forensische Möglichkeiten; ich fragte mich, ob Sherlock Holmes neben anderen chemischen Untersuchungsmethoden auch ein Spektroskop verwendet hatte. (Ich hatte eine große Schwäche für die Sherlock-Holmes-Geschichten und noch mehr für die Professor-Challenger-Erzählungen, die Conan Doyle später geschrieben hat. Mit Challenger konnte ich mich identifizieren, mit Holmes nicht. In Professor Challenger und das Ende der Welt spielt die Spektroskopie eine entscheidende Rolle, denn eine Veränderung in den Fraunhoferschen Linien des Sonnenspektrums macht Challenger auf das Herannahen einer Giftwolke aufmerksam.)
    Doch es waren die hellen Linien, die strahlenden Farben, die Emissionsspektren, auf die ich immer wieder zurückkam. Ich ging mit meinem Taschenspektroskop zum Piccadilly Circus und Leicester Square und betrachtete die neuen Natriumlampen, die zur Straßenbeleuchtung verwendet wurden, die scharlachroten Neonreklamen und die anderen Leuchtstoffröhren gelb, blau, grün, je nach dem verwendeten Gas -, die nach der langen Verdunkelung des Krieges das Westend nun in eine bunte Lichterpracht tauchten. Jedes Gas, jeder Stoff hatte sein eigenes Spektrum, seine eigene Signatur.
    Bunsen und Kirchhoff waren der Auffassung, die Position der Spektrallinien sei nicht nur das unverwechselbare Erkennungszeichen eines jeden Elementes, sondern auch eine Manifestation seiner innersten Natur. Diese Linien erschienen ihnen als «eine Eigenschaft von ähnlich unveränderlicher und grundlegender Natur wie das Atomgewicht», ja, als eine - wenn auch noch hieroglyphische und unentzifferbare - Manifestation ihrer inneren Beschaffenheit.
    Die Komplexität der Spektren (das des Eisens enthielt beispielsweise mehrere hundert Linien) ließ darauf schließen, dass Atome kaum die kleinen, dichten Massen sein konnten, die Dalton sich vorgestellt hatte, praktisch nur

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