Online Wartet Der Tod
– und dann? Nein, wir müssen Becker unter die Lupe nehmen, ohne dass er etwas merkt.«
Die Vorstellung, dass der Mann, der diesen Brief geschrieben und all die Frauen ermordet hatte, sie im Auto mitgenommen haben könnte, war Ellie höchst unangenehm. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Gespür sie dermaßen im Stich lassen würde. Aber wie sie es auch drehte und wendete, es gelang ihr nicht, Flanns Vermutung einfach abzuschütteln. Vielleicht zog er vorschnelle Schlüsse, aber sie mussten dem Hinweis nachgehen; das sah sie umso deutlicher, wenn sie an Dixons andere beunruhigende Bemerkung dachte. »Dixon meinte, dass Becker im Mordfall Tatiana von Anfang an geschlampt hat, auch schon, bevor sein Partner umgebracht wurde. Offenbar waren sie bei anderen Fällen ausgesprochen gut.«
»Das stimmt mit dem, was Becker uns erzählt hat, nicht überein.«
»Ich weiß. Und es könnte erklären, warum er eine so erbärmliche Ermittlungsakte hinterlassen hat. Das gibt mir zu denken.«
»Einer von uns muss sich frühere Akten von Becker ansehen, damit wir einen Vergleich haben. Damit wir sehen, ob er in Tatianas Fall wirklich absichtlich geschlampt hat.«
»Das kann ich machen«, bot Ellie an.
Flann schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht, worauf Sie achten müssen. Das ist Ihr erster Mordfall.«
»Okay. Sie machen es. Aber versprechen Sie mir, dass Sie mich über alles informieren, bevor Sie losrennen und ihn festnehmen oder so was!«
»Aye, aye.«
»Ich fahre noch mal nach Brooklyn und rede mit Tatianas Schwester. Vielleicht weiß sie etwas über den Deal mit dem FBI. Wenn die Zeit reicht, könnte ich auf dem Rückweg noch im Metropolitan Detention Center vorbeischauen und Lev Grosha einen Besuch abstatten.«
Auf dem Weg nach draußen schickte Ellie das Foto von Dixon vom Handy aus an Jess’ E-Mail-Account. Dazu schrieb sie: »Hör Dich mal um, ob diesen Typen im ›Vibrations‹ jemand kennt. Frag als Erstes den Geschäftsführer. C U 2nite.«
31
Schon in dem engen, weiß gekachelten Hausflur, der zu Zoya Rostovs Wohnung führte, erkannte Ellie das Babyweinen und die vergnügten Kleinkindlaute, die sie auch bei ihrem ersten Besuch hier gehört hatte. War es so, dass Kinder mit einem festgelegten Temperament zur Welt kamen – das eine zufrieden und verspielt, das andere anhaltend unglücklich und weinerlich? Als aber Zoya die Tür öffnete und Ellie in die kleinen Gesichter blickte, begriff sie, wie unfertig sie waren; ihre Stimmungen wechselten, wandelten sich ständig im Zuge der Entwicklung, die ein Kind im Laufe von Tagen, Wochen, Jahren durchlief. Diese beiden kleinen Wesen mussten noch viel lernen und erfahren, ehe sich sagen ließ, wie sie als Erwachsene wohl sein würden.
Zoya bat Ellie herein, und dann legte sie die Sicherheitskette vor.
»Ist Ihr Mann nicht da?«, fragte Ellie.
»Vitya arbeitet.«
»Was macht er beruflich?«
»Er ist Wachmann in einem Lagerhaus. Normalerweise hat er die Nachtschicht, aber in letzter Zeit macht er häufig Überstunden.«
»Es muss schwer sein, immer so lange mit den beiden Kleinen allein zu sein«, sagte Ellie freundlich.
»Ich betrachte meine Kinder nicht als Arbeit. Die Kinder von anderen Leuten – die waren Arbeit. In Russland war ich Lehrerin. Die Kinder selbst waren lieb und nett. Aber ich fand es jeden Tag wieder schwer, in diesem einen kleinen Raum auf die vielen Kinder aufzupassen. Dafür zu sorgen, dass sie sich nichts taten, dass sie sich anständig benahmen – das war Arbeit, gar nicht zu reden von der Mühe, die es mir bereitet hat, ihnen etwas beizubringen. Jetzt, mit meinen eigenen? Da kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sie als Arbeit betrachtet.«
»Haben Sie schon mal daran gedacht, auch hier in den Staaten als Lehrerin zu arbeiten?«
Zoya nickte. »Natürlich. Am Anfang. Aber ich habe nichts gefunden. Noch nicht einmal als Russisch-Lehrerin. Sie haben zu viele Zeugnisse und Papiere verlangt. Also habe ich mich nach einer anderen Arbeit umgeschaut. Manche Mädchen lernen Haare machen oder werden Hausangestellte. Ich bekam ein Angebot von einem Massagesalon, aber ich habe sofort gesehen, was da lief. Mein Fehler war, dass ich Tatiana davon erzählt habe. Und das haben wir nun davon.«
»Wie meinen Sie das?«
»Mir geht es gut. Ich bin mit einem guten Mann verheiratet, einem guten Vater. Ich habe Kinder und bin glücklich. Tatiana hat in solchen Massagesalons gearbeitet und ist nie auf die Weise glücklich geworden wie
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