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Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)

Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)

Titel: Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schulz
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ungeduldig, aber keineswegs unnachsichtig – auf dem Tisch parkt. Dann gibt er Dagmar die avisierten »Regieanweisungen«.
    Zunächst nimmt er Stuhl F von Tisch 4, Backbord, rückt ihn an die Stirnseite von Tisch 5, also vis-à-vis von Bellas Schädel, und sagt Dagmar, sie möge sich dort niederlassen, damit sie das folgende »Gespräch« so ruhig wie möglich aufzeichnen könne. Weiter nichts, bis neue Instruktionen folgten.
    Anschließend setzt er sich auf Platz A von Tisch 5, genau gegenüber von Platz D, dem Platz des Mannes mit dem (tiefschwarz gefärbten) Krausbart, der Sonnenbrille mit den dunkelgrünen Rundgläsern und der Baskenmütze.
    So also das Szenario zu Beginn von Clip 4/4. Dagmar hat sich sichtlich bemüht, stets beide Gesprächspartner gleichzeitig im Fokus zu behalten. Im Vordergrund, an der Schmalkante des Tisches, wie als Totem Bellas Kopf. (Zwar war der Halsschnitt schräg erfolgt; doch das dichte Fell – selbst dort, wo es nicht flauschig weiß, sondern naß von Blut war – mitsamt der heraushängenden, rotkohlblauen Zunge und den Korbriemen wirkten stützend, so daß der Schädel keineswegs umkippt. Zumal ein Auge zugekniffen ist, reproduziert die schiefe Kopfhaltung beinah die niedlich-neckisch animierte Attitüde aus einem Werbeclip für Hundefutter.) Die Alsterkarte, womit der Tisch bedruckt ist, verschwindet unter einem weitflächig aufgefächerten Stoß von Broschüren zum I. Moderlieschen-Fest. Pro Längsseite zwei leere Stühle: Platz B und C sowie E und F, und dann, auf den Fensterplätzen, die beiden Männer – einer zusammengesackt rückwärts gekauert (Halbprofil), der andere (Profil), interessiert vorgebeugt, auf die flach abgelegten Unterarme gestützt, daß der scheinbar gehäutete Trizeps schwillt, vor sich den abgelegten Dolch.
UT1:  Du zitterst ja, Dicker. Frierst du? (Lacht glucksend; d. Verf.) Nee. Schüttelfrost, was? Ich bin aber auch … bißchen unterzuckert. Und dann das Wetter … Wahnsinn. Wahnsinn. Weißt du noch, wie arschkalt es auf Malle war? Wie du mit den Zähnen geklappert hast, als ich dich ins Wasser geschubst hatte?
    Außer mit jenem groben Beben reagiert der bärtige Mann immer noch nicht. Wiewohl seine beigefarbene Kappe so etwas wie ein übervoller Schwamm zu sein scheint. Über Stirn und Schläfen strömt Schweiß, und die Nasenspitze bildet immer neue klare Tropfen, die einer nach dem anderen in den zottigen Igel des gefärbten Bartes stürzen. (Aus dem es wiederum schwarz heraustropft.) Abgesehen davon, daß er sich in regelmäßigen Abständen mit dem rechten der langen T-Shirt-Ärmel über die Stirn wischt, hockt der Mann einfach da – hockt da unter seiner Baskenmütze, hinter der Brille mit den dunkelgrünen Rundgläsern (da er das Gesicht ein wenig verkantet, sind seine Augen auch im Halbprofil nicht zu sehen) –, mehr oder weniger in sich zusammengesunken, die rechte Hand sodann wieder unter den Tisch schiebend, in der Linken ein regelmäßig zitterndes Blättchen Zigarettenpapier. Vor ihm, auf dem Tisch, das Plastikbeutelchen, aus dem die Tabakfasern wuchern.
UT1:  Äy! Ich bin’s, Dicker.
    Keine Reaktion.
UT1:  Hey. Otto, Dicker . Mein Freund. Mein bester Freund. Einziger wahrer Freund, den ich je hatte, Dicker. So sieht man sich wieder.
    Keine signifikante Reaktion, und jäh schnellt der Hüne mit dem Oberkörper vor. Ein, zwei Rupfgriffe, das Reißen von Textil, eine Bewegung aus dem Handgelenk, und schon sitzt der Hüne wieder auf seinem Platz wie zuvor, und erst dann hört man die Sonnenbrille irgendwo im Schiff zersplittern. (Und zwar an der exakt gegenüberliegenden Seite, Steuerbord. An der Fensterscheibe von Tisch 5, zwischen dem blinden Mann – meinem späteren Mandanten – und dessen Begleitung.
    Dem Blinden verdanke ich die akustisch, aber auch die olfaktorisch präzisesten Erinnerungen. Blinde leben in der Zeit, nicht im Raum, doch in diesem Fall habe er allein aufgrund der Gerüche eine Art Klaustrophobie empfunden. Bei weit über dreißig Grad Celsius Außentemperatur war die Atemluft im Fahrgastraum zu diesem Zeitpunkt – achtzehn Minuten, nachdem die Tür zur Heckveranda geschlossen worden war; vierzehn Minuten nach Bellas Hinrichtung – bereits extrem gefault. [Die sommers gewöhnlich nur durch je drei Riegelschranken gesicherten Einstiege direkt hinterm Ruderhaus hatte Käpt’n L. aus schutzautomatischen Gründen, die er später selbst nicht mehr nachvollziehen konnte, mit den gläsernen

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