Oper und Drama
mußte, stellte sich die Notwendigkeit heraus, auch den Schauplatz zusammenzudrängen, und zwar namentlich aus Rücksicht für den Zuschauer, der nun nicht mehr bloß schauen, sondern auch deutlich hören sollte. Wie auf den Raum hatte sich diese Beschränkung auch auf die Zeitdauer des dramatischen Spieles auszudehnen. Die Mysterienbühne des Mittelalters, auf weitem Anger oder auf freien Plätzen und Straßen der Städte aufgeschlagen, bot der versammelten Volksmenge ein tagelang, ja – wie wir noch heute es erfahren – mehrere Tage lang dauerndes Schauspiel dar: ganze Historien, vollständige Lebensgeschichten wurden aufgeführt, aus welchen die ab- und zuwogende Zuschauermasse nach Belieben für ihre Schaulust sich auswählen konnte, was ihr das Sehenswerteste erschien. Solch eine Aufführung war das vollständig entsprechende Seitenstück der ungeheuer bunten und vielstoffigen Historien des Mittelalters selbst: gerade so larvenhaft charakterlos, ohne alle individuelle Lebensregung, hölzern und grob zugeschnitten waren die vielhandelnden Personen dieser gelesenen Historien, wie die Darsteller jener zur Schau gebrachten. Aus denselben Gründen, die den Dichter bestimmten, die Handlung und den Schauplatz zu verengen, hatte er somit auch die Zeitdauer der Aufführung zusammenzudrängen, weil er seinen Zuschauern nicht mehr Bruchstücke, sondern ein in sich abgeschlossenes Ganzes vorführen wollte, so daß er die Kraft der Fähigkeit des Zuschauers, einem vorgeführten fesselnden Gegenstande seine ungeteilte Aufmerksamkeit fortgesetzt zuzuwenden, zu seinem Maßstab für die Zeitdauer dieser Aufführung machte. Das Kunstwerk, das nur an die Phantasie appelliert, wie der gelesene Roman, kann in seiner Mitteilung sich leicht unterbrechen, weil die Phantasie so willkürlicher Natur ist, daß sie keinen anderen Gesetzen als der Laune des Zufalls gehorcht: was aber vor die Sinne tritt, und diesen mit überzeugender, unfehlbarer Bestimmtheit sich mitteilen will, hat nicht nur nach der Eigenschaft, Fähigkeit und natürlich begrenzten Kraft dieser Sinne sich zu richten, sondern sich ihnen auch vollständig, von Kopf bis zu Fuß, von Anfang bis Ende, vorzuführen, wenn es nicht, durch plötzliche Unterbrechung oder Unvollständigkeit seiner Vorführung, zur notwendigen Ergänzung eben nur wieder an die Phantasie, aus der es sich gerade an die Sinne wandte, appellieren will.
Nur eines blieb auf dieser verengten Bühne noch gänzlich nur der Phantasie überlassen – die Darstellung der Szene selbst, in welcher die Darsteller den lokalen Erfordernissen der Handlung gemäß auftraten. Teppiche umhingen die Bühne; die Inschrift einer leicht zu wechselnden Tafel zeigte dem Zuschauer den Ort, ob Palast, Straße, Wald oder Feld, an, der als Szene gedacht werden sollte. Durch diesen einen, der damaligen Bühnenkunst noch unumgänglich nötigen Appell an die Phantasie blieb im Drama dem buntstoffigen Romane und der vielhandligen Historie noch Tor und Tür offen. Fühlte der Dichter, dem es bis jetzt immer nur noch um die leiblich redende Darstellung des Romanes zu tun war, die Notwendigkeit einer naturgetreuen Darstellung auch der umgebenden Szene noch nicht, so konnte er die Notwendigkeit, die darzustellende Handlung in noch immer bestimmtere Begrenzung der wichtigsten Momente derselben zusammenzudrängen, auch nicht empfinden. Wir sehen hieran mit ersichtlichsten Deutlichkeit, wie zur vollendetsten Gestaltung des Kunstwerkes einzig die entscheidende Notwendigkeit hindrängt, die dem Wesen der Kunst gemäß den Künstler bestimmt, aus der Phantasie sich an die Sinne zu wenden, die Phantasie aus ihrer unbestimmten Tätigkeit durch die Sinne zu einer festen, verständnisvollen Wirksamkeit zu vermögen. Diese, alle Kunst gestaltende, das Streben des Künstlers einzig befriedigende Notwendigkeit erwächst uns nur aus der Bestimmtheit einer universell sinnlichen Anschauung: sind wir all ihren Anforderungen vollkommen gerecht, so treibt auch sie uns zum vollkommensten Kunstschaffen. Shakespeare, der die eine Notwendigkeit der naturgetreuen Darstellung der umgebenden Szene noch nicht empfand, und daher die Vielstoffigkeit des von ihm dramatisch behandelten Romanes gerade nur so weit sichtete und zusammendrängte, als die von ihm empfundene Notwendigkeit eines verengten Schauplatzes und einer begrenzten Zeitdauer der von wirklichen Menschen dargestellten Handlung es erheischte – Shakespeare, der innerhalb dieser Grenzen Historie und
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