Operation Amazonas
Dschungel gewesen. Zur Vorbereitung auf die Expedition hatte sie Bücher und Artikel gelesen, doch der erste Eindruck entsprach keineswegs ihren Erwartungen.
Während sie hinter den vier Rangern an der Spitze herstapfte, blickte sie sich verwundert um. Anders als in alten Filmen war der Regenwald des Amazonas am Boden kein Gewirr von Schlingpflanzen und wuchernder Vegetation. Vielmehr ähnelte er eher einer grünen Kathedrale. Ein dichtes Dach ineinander verwobener Äste wölbte sich über ihren Köpfen, schluckte das meiste Sonnenlicht und hüllte alles in ein grünliches Zwielicht. Kelly hatte gelesen, dass weniger als zehn Prozent des Sonnenlichts den Dschungelboden erreichten. Deshalb war das unterste Stockwerk des Waldes, durch das sie wanderten, erstaunlicherweise fast frei von Vegetation. Der Dschungel war hier eine Welt des Schattens und der Verwesung, das Reich der Insekten, Pilze und Wurzeln.
Die Abwesenheit grüner Pflanzen bedeutete jedoch nicht, dass sie durch den pfadlosen Urwald auch leicht vorankamen. Überall lagen verrottete Baumstämme und Äste herum, bedeckt mit gelbem Schimmel und weißen Pilzen. Ein rutschiger Mulch aus verwesenden schwarzen Blättern erschwerte das Vorankommen, und darunter schlängelten sich die Wurzeln, die die gigantischen Bäume in der dünnen Erdschicht verankerten und das Risiko, sich den Knöchel zu verstauchen, noch weiter erhöhten.
Obwohl es auf dieser Ebene nur wenige Pflanzen gab, waren sie doch gleichwohl vorhanden. Der Waldboden war mit ausladenden Farnen, dornigen Ananasgewächsen, anmutigen Orchideen und schlanken Palmen geschmückt, und die seilartigen Lianen waren allgegenwärtig.
Ein lautes Klatschen veranlasste sie, sich umzudrehen. Ihr Bruder rieb sich den Hals. »Verdammte Fliegen.« Kelly holte eine Plastikflasche mit Insektenmittel aus der Tasche und reichte sie Frank. »Nimm das hier.«
Er rieb sich die unbedeckten Stellen ein.
Nathan trat neben sie. Er hatte einen australischen Buschhut aufgesetzt und wirkte wie eine Mischung aus Indiana Jones und Crocodile Dundee. Seine blauen Augen funkelten im Halbdunkel belustigt. »Das ist reine Zeitverschwendung«, meinte er zu Frank. »Was Sie da auftragen, wird in Minutenschnelle abgeschwitzt.«
Kelly konnte ihm da nicht widersprechen. Nach lediglich fünfzehnminütigem Marsch war sie bereits nass geschwitzt. Die Luftfeuchtigkeit musste unter dem Blätterdach bei hundert Prozent liegen. »Was schlagen Sie stattdessen vor?«
Nathan zuckte die Schultern und lächelte schief. »Man findet sich damit ab. Man ignoriert die Mücken. Diese Schlacht kann man nicht gewinnen. Hier heißt es fressen oder gefressen werden, und manchmal zahlt man halt den Preis.«
»Mit dem eigenem Blut?«, fragte Frank.
»Sie sollten sich nicht beklagen. Damit kommen Sie noch billig davon. Hier gibt es weit gefährlichere Insekten, und damit meine ich nicht bloß die großen, nach Vögeln jagenden Spinnen oder die fußlangen schwarzen Skorpione. Die kleinen sind am schlimmsten. Haben Sie schon mal vom Mordkäfer gehört?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Frank.
Auch Kelly schüttelte den Kopf.
»Also, der hat die lästige Angewohnheit, zu beißen und gleichzeitig den Darm zu entleeren. Wenn das Opfer sich kratzt, bringt es den Kot, der den Einzeller Tripanozoma crusii enthält, mit dem Blutkreislauf in Kontakt. Dann stirbt man binnen einer Frist von einem bis zu zwanzig Jahren an einer Hirn- oder Herzkrankheit.«
Frank erblasste und hörte auf, sich am Hals zu kratzen.
»Dann gibt es noch die Schwarzen Fliegen, die in den Augäpfeln Eier ablegen. Daraus entwickeln sich Maden, die eine Krankheit zur Folge haben, die als Flussblindheit bezeichnet wird. Und Sandfliegen, die Leishmaniasis übertragen können, eine Lepraerkrankung.«
Kelly reagierte mit einem Stirnrunzeln auf den Versuch des Botanikers, ihren Bruder zu verunsichern. »Mit den übertragbaren Krankheiten, die es hier gibt, kenne ich mich ganz gut aus. Gelbfieber, Denguefieber, Malaria, Cholera, Typhus.« Sie rückte ihren Rucksack zurecht. »Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet.«
»Auch auf Candirus?«
Sie runzelte die Stirn. »Was ist das für eine Krankheit?«
»Das ist keine Krankheit. Das ist ein kleiner Fisch, der bisweilen auch Zahnputzerfisch genannt wird. Er ist sehr dünn, etwa fünf Zentimeter lang und lebt als Parasit in den Kiemen größerer Fische. Er hat die unangenehme Angewohnheit, in die Harnröhre von Männern einzudringen und sich dort
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