Operation Romanow
wie immer weit aufgerissen. Er umklammerte seine schwachen Beine und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Olga, die im letzten Jahr vor Kummer stark abgenommen hatte, rang nervös die Hände und kauerte mit aufeinandergepressten Lippen neben ihrer Mutter. Tatjana wirkte wie immer in letzter Zeit todkrank. Maria mit dem kindlichen Gesicht, deren Haar bis auf die Schultern fiel, sah seltsamerweise blendend aus. Sie schenkte ihrer Schwester ein flüchtiges, banges Lächeln. Anastasia zwinkerte ihr zu. Wie sehr ich sie alle liebe, dachte sie.
In diesem Moment spürte sie die Zuneigung zu ihrer Familie aus irgendeinem sonderbaren Grund viel intensiver als gewöhnlich. Vielleicht, weil sie alle in diesem kleinen Raum wie Gefangene, die nicht wussten, was sie erwartete, zusammengedrängt wurden. Sie war verunsichert und spürte die Verwirrung auch bei allen anderen aus ihrer Familie, obwohl niemand ein Wort sagte.
Dr. Botkin sah mit Abstand am besorgtesten aus. Er bewegte unablässig die Finger, und auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen.
In dem kleinen Raum war es warm und eng.
Anastasia ahnte, dass nicht nur das zu ihrem Unbehagen beitrug. Es war so, als wüssten alle hier, dass etwas geschehen würde, aber niemand konnte sagen, was es war.
Oder bildete sie es sich nur ein?
Eine Sekunde später hörten sie alle ein Poltern und Rumpeln. Das war nicht der Motor des Lastwagens, der noch immer in der Ferne dröhnte, sondern ein anderes Geräusch.
Laute Schritte. Viele laute Schritte, die sich der Tür näherten.
Der kleine Hund spitzte die Ohren und zappelte unruhig in Anastasias Armen. Sie warf ihrem Bruder einen Blick zu. Alexej war noch blasser als sonst. Er schien vor Angst erstarrt zu sein.
Die Bodendielen begannen zu beben. Und nur den Bruchteil einer Sekunde später wurden die Türen aufgerissen …
115. KAPITEL
Ipatjew-Haus, Jekaterinburg
Andrew saß neben Jakow in dem Fiat-Lastwagen, der rumpelnd über das Kopfsteinpflaster auf dem menschenleeren Wosnessenski-Prospekt fuhr.
»Warum willst du Ninas und dein Leben opfern? Warum riskierst du so viel? Warum? Wir können noch immer umkehren. Ich bitte dich! Du hast keine Chance«, beschwor Jakow Andrew.
Andrews Hand lag auf dem Nagant-Revolver in seiner Jackentasche. »Ich muss es trotzdem versuchen.«
»Soviel ich weiß, sind die Romanows schon tot.«
»Wir haben dafür gesorgt, dass der Lastwagen aus dem Depot später kommt. Es passiert nichts, bevor ein Fahrzeug zur Verfügung steht, um die Leichen wegzuschaffen.«
»Selbst wenn du es schaffst, ins Haus zu gelangen, was dann?«
»Du sagst dem Kommandanten, dass wir einen besonderen Auftrag von Lenin erhalten haben. Die Hinrichtung muss verschoben werden, bis wir die Familie nach den fehlenden Edelsteinen durchsucht haben.«
»Und wie willst du ihn überzeugen, dass dein angeblicher Befehl wahr ist?«
Andrew zog den gefälschten Brief aus der Tasche. »Das müsste ihn lange genug ablenken. Ich brauche nur fünf Minuten allein mit der Familie, um sie in den Tunnel zu bringen.«
»Ich sage es dir zum letzten Mal, Juri, die Sache ist zum Scheitern verurteilt!«
»Wir werden sehen. Keine Tricks, Leonid. Ich will dich nicht töten, aber wenn ich muss, werde ich es tun.«
Sie näherten sich der Haupteinfahrt des Ipatjew-Hauses. Die Wachen an der Absperrung sahen nervös aus, aber als sie Jakow erkannten, entspannten sie sich ein wenig.
»Lassen Sie uns durch«, befahl er.
Die Wachen musterten Andrew.
»Das ist Kommissar Kuris mit besonderer Mission aus Moskau«, erklärte Jakow.
Andrew zeigte ihnen den Brief. Die Wachen, die vermutlich des Lesens unkundig waren, lasen ihn gar nicht durch und sahen Jakow stattdessen fragend an. »Der Kommandant hat befohlen, dass niemand das Grundstück betreten darf.«
»Ich habe ihm diesen Befehl gegeben. Machen Sie die Schranke hoch. Wir sind in einer dringenden Angelegenheit hier.«
Anastasia zuckte zusammen, als die Tür aufsprang und der Kommandant zurückkehrte. Ihm folgten zahlreiche Wachposten, die nach Wodka stanken. Anastasias Herzschlag setzte aus. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick wanderte zu ihren Schwestern, die alle verängstigt aussahen.
Ihre Mutter versteifte sich, und ihr Vater trat mutig vor, doch seine Stimme war von Angst erfüllt. »Wir sind alle da. Was haben Sie jetzt vor?«
Als sich nun so viele Menschen in dem winzigen Raum drängten, wirkte er noch kleiner. Entweder lag es an dem geschlossenen Raum oder an
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