Operation Romanow
das Haus verließ, war Anastasia. Sie hielt Jimmy, den schwarz-weißen Schoßhund der Familie, auf dem Arm. Draußen angekommen, ließ sie ihn herunter, worauf er im Schnee umhertollte. Anastasias Haar fiel ihr bis auf die Schultern, um ihren Hals hatte sie sich einen weißen Schal geschlungen. Sorg hätte sie seinerzeit auf den kaiserlichen Fotos, die er gesehen hatte, erkennen müssen, doch sie schien jetzt viel älter zu sein. Das Mädchen auf den Bildern sah aus wie ein Kind, aber aus der Nähe betrachtet wirkte sie wie eine junge Dame.
Die Vorhersage ihres Klavierlehrers Konrad hatte sich bewahrheitet. Innerhalb weniger Monate hatte der Zar abgedankt, und seine Familie war im Alexanderpalast in Zarskoje Selo unter die Aufsicht bewaffneter Wachen gestellt worden. Kerenskis Übergangsregierung, die an allen Fronten kämpfen musste, hing am seidenen Faden. Sozialisten, Menschewisten und die Roten versuchten, die Kontrolle über das Land an sich zu reißen, während sie schnurstracks auf einen blutigen Bürgerkrieg zusteuerten.
Sorg beobachtete Anastasia und ihre ältere Schwester Olga, die Schneebälle formten und ihre Schwestern Tatjana und Maria damit bewarfen. Es sah so aus, als trüge Anastasia einen Mantel ihres Vaters. Er war viel zu groß für sie und verlieh ihr ein verletzliches Aussehen.
Sorg wandte den Blick von den herumalbernden Mädchen ab, als die einstige Zarin und ihr Gatte auf eine Bank zugingen und sich hinsetzten. Wie immer trug der gestürzte Zar seinen dreizehnjährigen kranken Sohn Alexej auf dem Arm. Er setzte das Kind auf seinen Schoß und drückte es an sich.
Anastasia hatte einmal erzählt, dass ihre Familie ständig in Sorge sei, Alexej könne verbluten. Mit Ausnahme des Zaren selbst glaubte die ganze Familie, Rasputin habe wie durch ein Wunder geholfen, Alexejs Bluterkrankheit zu lindern. Für Sorg war es unvorstellbar, dass dieser verrückte, betrunkene Mönch, den er auf dem Ball gesehen hatte, überhaupt irgendetwas konnte.
Doch jetzt war Rasputin tot. Seine Feinde hatten ihn brutal ermordet und seinen Leichnam in die Newa geworfen.
Nikolaus II. strich seinem Sohn zärtlich übers Haar. Dieser Mann hatte einen widersprüchlichen Charakter. Sorg würde niemals die Zeitungsfotos vergessen, die sein Vater ihm von den jüdischen Kindern, unter denen sich sogar Babys befanden, gezeigt hatte, die während eines Pogroms niedergemetzelt worden waren. Auch Verwandte von Sorg hatten sich unter den Opfern befunden. War es da eine Überraschung, dass die Revolution größtenteils von den Juden ausging?
Sorg richtete seinen Blick wieder auf Anastasia. Sie tollte mit ihren Schwestern verspielt im Schnee herum. Es ist wirklich absurd, sagte sich Sorg. Er war ein sechsundzwanzigjähriger zynischer Jude aus Brooklyn, der über die Liebe spottete. Anastasia Romanowa war sechzehn Jahre alt, eine geborene russische Großfürstin. War es falsch, dass er – ein erwachsener Mann – an einem so jungen Mädchen Gefallen fand? Obwohl Sorg alles, wofür ihr Vater stand, vehement ablehnte, erweckte dieses junge Mädchen die wärmsten Gefühle in ihm.
Als Sorg sie beobachtete, dachte er: Ich habe nicht vorhergesehen, dass das passiert und dass ich mich hoffnungslos in dich verliebe. Ich hätte niemals gedacht, dass ich deine Gesellschaft vermisse und mich danach sehne, dich zu küssen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich danach verzehre, dass du nachts neben mir liegst. Ich hätte mir niemals vorstellen können, es könnte mich in Angst und Schrecken versetzen, dich niemals wiederzusehen.
Der Gedanke an das, was sein Vater, der die Monarchie abgrundtief gehasst hatte, wohl dazu gesagt hätte, beunruhigte ihn.
Sorg schob den Gedanken beiseite und dachte daran, wie er nach jeder Klavierstunde im Palast immer ungeduldiger auf seinen nächsten Besuch gewartet hatte. Es spielte keine Rolle, dass die Unterrichtsstunden nicht nur seinem Vergnügen dienten, sondern dass er sie zudem nutzte, um Geheiminformationen zu sammeln. Sorg redete sich ein, dass es viel mehr als nur Sympathie war, was er und Anastasia bei ihrem ersten Treffen empfunden hatten. Und auch wenn sie ein echter Wildfang war, spürte er ihre Verletzbarkeit.
Es war so, als fügte sie sich trotz ihrer privilegierten Erziehung – oder vielleicht gerade deshalb – nirgendwo ein. Ihre Schwäche nährte seinen Wunsch, sie zu beschützen.
Urplötzlich geriet Sorg in Aufregung, als die Wachen die Romanows zurück zum Palast führten. Ihr
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