Operation Romanow
Zimmergenossen arbeiteten bei der Eisenbahn. Der dritte war ein nervöser Mann mit spärlichem Bartwuchs. Ab und zu spielte Sorg mit ihm Karten, um sich die Zeit zu vertreiben. Er vermutete, dass er ein Deserteur der Weißen war.
Das wenige Geld, das Sorg besaß, stopfte er in seine Stiefel und vergrub es in einer wasserdichten Tasche im Wald hinter der Herberge. Er achtete darauf, dass er seinen Füllfederhalter mit der tödlichen Klinge immer griffbereit hatte.
Als Sorg seinen Karren an diesem Morgen zur Isset, die sich durch die Stadt schlängelte, zog, hörte er, dass eine Kirchenglocke zehn Uhr schlug.
Er beschleunigte seine Schritte. Mit ein bisschen Glück würde er heute Kontakt zu Anastasia aufnehmen.
Sorg stieg einen Hügel hinauf und bog in eine gepflasterte Gasse mit alten, verfallenen Lagerhäusern ein, die größtenteils mit Brettern vernagelt waren. Vor einem der Gebäude hielt er an und überzeugte sich davon, dass sich niemand in der Gasse aufhielt. Dann öffnete er den Riegel an einer großen Doppeltür und zog den Karren hinter sich hinein.
Das Lagerhaus war mit verrottetem Heu gefüllt, das nach Exkrementen stank, und die getünchten Wände waren mit revolutionären Parolen beschmiert: »Nieder mit den Reichen!« und »Tötet die Bourgeoisie, die uns ausbluten lässt!«.
Sorg schloss die Tür und hängte ein dickes Holzbrett waagerecht davor, damit niemand eintreten konnte. Der Karren, den er vor die Tür stellte, würde als Hindernis dienen, falls er durch den Hinterausgang fliehen musste. Er zog den Revolver unter den Holzstücken hervor und steckte ihn in die Tasche.
Anschließend stieg Sorg eine knarrende Holztreppe zu einem großen Speicher hinauf, auf dem alte hoch aufgestapelte Birkenholzscheite lagerten. Durch vier Glasscheiben drang kühles Licht in den Raum. Vom Fenster aus konnte man auf die Isset schauen. Sorg hatte in der Stadt nach einem geeigneten Beobachtungsposten Ausschau gehalten und vor zwei Wochen diesen Speicher entdeckt.
Er ging zu einem der Holzhaufen in einer Ecke und zog ein paar Scheite heraus. In dem Hohlraum hatte er sein Messing-Fernrohr versteckt. Sorg nahm es mit zum Fenster, wischte mit dem Ärmel über die beschlagene Scheibe und sah in der Ferne die Südseite des Ipatjew-Hauses und die Gärten.
In den Straßen von Jekaterinburg vernahm man jede Menge Gerüchte. Einen Tag nach seiner Ankunft hatte Sorg von dem »Haus zur besonderen Verwendung« in der Nähe des Wosnessenski-Prospekt gehört. Das Haus war im Besitz eines reichen Geschäftsmanns aus der Stadt gewesen, ehe es von den Roten beschlagnahmt worden war, um die Romanows dort unterzubringen.
Sorg setzte sich auf den dreckigen Boden und spähte durch das Fernrohr. Rings um das zweistöckige Ipatjew-Haus hatte man eine doppelte Holzpalisade errichtet, die teilweise über drei Meter hoch war. Er entdeckte drei Wachen mit gelangweilten Mienen, die mit Gewehren bewaffnet über das Grundstück spazierten. Der hohe Zaun schränkte den Blick so weit ein, dass Sorg nur die Köpfe oder die Oberkörper der Männer sehen konnte, die durch den Garten schlenderten.
Auf einer breiten Straße vor dem Haus patrouillierten weitere Wachposten. Und in dem hoch aufragenden Glockenturm der nahe gelegenen Wosnessenski-Kathedrale hatte ein Maschinengewehr-Schütze der Roten Armee Position bezogen, dessen Waffe auf das Ipatjew-Haus gerichtet war.
Sorg hatte keine Angst vor dem Scharfschützen. Immer, wenn er sein Fernrohr auf den Glockenturm richtete, schlief der Soldat entweder oder kratzte sich irgendwo.
Um 10.20 Uhr sah Sorg auf seine Taschenuhr.
Anastasia und ihre Familie durften normalerweise zweimal täglich für jeweils eine halbe Stunde im Garten spazieren gehen und frische Luft schnappen: um halb zwölf am Mittag und dann noch einmal gegen halb vier am Nachmittag. Mitunter durften sie auch länger im Garten verweilen. Das hing ganz von der Stimmung der Wachposten ab. Über ein Jahr war es jetzt schon her, dass er mit Anastasia gesprochen hatte. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Heute hoffte Sorg, das zu ändern, und er konnte es kaum erwarten.
Er war nervös. Er machte es sich bequem, um die Wartezeit zu überbrücken.
In seine Hosentaschen hatte er eine Flasche Bier, ein in Fettpapier eingewickeltes Stück Hartkäse und seine Laudanumtinktur gestopft. Er nahm die kleine Flasche heraus, schüttelte sie und drehte den Verschluss mit der Pipette daran ab.
Damit seine eiserne Reserve länger hielt, hatte Sorg
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