Opernball
dort den besten Saalblick. Die Eröffnung war immer das Schlimmste am Opernball. Ich kann mir nicht vorstellen, daß diese verkrampfte Gleichschreiterei irgend jemandem gefallen soll, außer vielleicht den Offizieren von der Militärakademie, die daran in Uniform teilnehmen. Sicherheitshalber flößte ich Jan Friedl vorweg ein paar Gläser Champagner ein. Oder sagen wir besser: Er trank sie von selbst, und ich hatte Mühe, rechtzeitig Nachschub zu ordern. Bei Jan Friedl war es immer wichtig, daß er guter Stimmung war. Sonst neigte er nach wie vor dazu, ausfällig zu werden. Mir machte das ein wenig Sorge wegen der Nachbarlogen, beide ebenfalls Stammlogen. Vor allem wegen der Loge rechterhand. Sie gehörte der altösterreichischen Offiziersfamilie Hilzendorfer. Seit Menschengedenken gab es in dieser Familie nur Offiziere und Generäle. Ich kenne drei Generationen von ihnen. Sie gehören zu den feinsten Österreichern, die man sich denken kann. Glühende Patrioten. Äußerst gebildet. Der alte Hilzendorfer diente als junger Mann bei den Alliierten Streitkräften. Er wurde 1944 als Agent nach Wien geschickt, um die Verteidigungsanlagen zu erkunden. Sein Vater war einer der wenigen österreichischen Generäle, die gegen Hitler mit allen Mitteln Widerstand leisten wollten. Die Politiker ließen es nicht zu. Gleich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurde er verhaftet und nach Dachau deportiert. Da für ihn auch regimetreue Militärs intervenierten, wurde er nach einem halben Jahr aus dem Lager entlassen. Er sollte herabgestuft und in die Deutsche Wehrmacht eingegliedert werden. Doch er floh mit seiner Familie nach England.
Phantastisch, sagte Jan Friedl, als von oben ein Flugblätterregen niederging. Es waren dünne schwarze Seidenpapierblätter im Format A5 , die, abgesehen von einem kleinen Stapel, der zusammenblieb und auf das Parkett klatschte, sich durch die Luft tragen ließen und ihr Spiel miteinander trieben, sich einmal auf diese Seite neigten, dann auf jene, sich kreuzten und überholten, um sich schließlich sanft in den Logen, auf den Blumengestecken, den Beleuchtungskörpern und vor allem auf dem hellbraunen Spiegelparkett niederzulassen. Das war noch vor zehn, als Sie noch nicht auf Sendung waren. Noch während die Blätter herabflatterten, konnte man lesen, was in dicker roter Schrift auf ihnen geschrieben stand: WIR SIND DER LETZTE DRECK! Es war, als hätten alle einen Moment lang den Atem angehalten. Dann begann ein allgemeines Kopfschütteln, auch Schreie waren zu hören. Alle schauten auf eine der Logen über uns, wo es offenbar irgendein Gerangel gab. Im Saal unten fingen ein paar Menschen zu laufen an, auch von den Gängen draußen war Getrampel zu hören.
Bei uns waren gleich mehrere dieser Blätter gelandet. Unter dem Satz WIR SIND DER LETZTE DRECK! stand in kleiner Schrift: Ausländerhilfsverein. Jan Friedl faltete Flieger aus den Blättern und schickte sie in den Saal hinab.
»Hören Sie bitte auf damit«, sagte die Kellnerin.
Der letzte Dreck wurde, unter dem Applaus von Ausländern, von livrierten Ausländern mit erstaunlich breiten Besen zum hinteren Ausgang gekehrt, wo er in Plastiksäcken verschwand. Dann setzte ohnedies die Musik ein, und der Saal füllte sich mit Krönchen und Fracks, die, ganz anders als die Seidenpapierblätter, mit nur leichten Abweichungen und Verzögerungen alle dieselben Bewegungen vollführten.
»Das ist so blöde, daß ich mir gar nichts Schöneres vorstellen kann«, sagte Jan Friedl.
Noch während der Polonaise begann er, von Bruno Kreisky zu reden, der auf dem Opernball immer merkwürdige Interviews gegeben habe, über die guten Seiten der monarchistischen Tradition und so.
»Alles Quatsch«, sagte er. »In Wirklichkeit ist das hier nichts, eine Anhäufung von nichts. So viel Aufwand für so wenig Bedeutung, das ist schlicht genial. Wenn es ein großer Scheißhaufen wäre, könnte man dafür sein oder dagegen. Aber es ist nichts.«
Begeistert beobachtete er den ganzen Abend lang die tanzenden Menschen unter uns. Besonders die Ordensträger gefielen ihm. Auf einen, der die ganze Brust mit Orden gespickt hatte, machte er mich aufmerksam.
»Wenn Du den erschießen willst«, sagte er, »brauchst Du eine Kanone.«
Manchmal lachte er hell auf. Immer wieder stieß er das Wort »phantastisch« hervor. Alles war für ihn phantastisch. Meine Angst, daß es einen Konflikt mit der rechten Nachbarloge geben könnte, war vollkommen unbegründet. Wir grüßten
Weitere Kostenlose Bücher