Opferlämmer
noch?«
Sie zögerte. Und lächelte wieder. »War meine Erklärung zu ausführlich?«
»Ja.«
»Okay. Sie ist behindert.«
»Ach ja? Das ist aber immer noch keine Antwort auf meine Frage.«
»Sie möchte dich gern kennenlernen, Rhyme. Du bist eine Berühmtheit.«
Rhyme seufzte. »Meinetwegen.«
Sachs runzelte die Stirn. »Du hast nichts dagegen?«
Nun musste er lachen. »Ich bin nicht in der Stimmung. Lass sie ruhig herkommen. Ich werde sie selbst vernehmen und dir zeigen, wie so was geht. Kurz und schmerzlos.«
Sachs beäugte ihn misstrauisch.
»Was hast du, Mel?«, fragte Rhyme.
Der Techniker saß über ein Mikroskop gebeugt. »Nichts, das uns helfen könnte, ihn zu verorten.«
»›Verorten‹. Da hat jemand in der Verbenschule aber gut aufgepasst«, merkte Rhyme spöttisch an.
»Aber ich hab was anderes«, sagte Cooper, der Rhymes Bemerkung ignorierte und stattdessen das Ergebnis des Massenspektrometers vorlas. »Partikelspuren, bei denen es sich laut der Datenbank um Ginseng und Wolfsbeere handelt.«
»Chinesische Kräuter, vielleicht Tee«, verkündete Rhyme. Bei einem Fall vor einigen Jahren hatten sie es mit einem sogenannten
Schlangenkopf zu tun bekommen, einem Menschenschmuggler, und ein großer Teil der Ermittlungen hatte in Chinatown stattgefunden. Ein Polizist aus China war ihnen dabei behilflich gewesen. Außerdem hatte er Rhyme ein wenig über Kräuter beigebracht und gehofft, sie könnten seinen Zustand verbessern. Natürlich zeigten die Substanzen keine Wirkung, aber Rhyme hatte das Thema als möglicherweise hilfreich für seine zukünftige Arbeit empfunden. Im Augenblick konnte er den Fund nur zur Kenntnis nehmen und Cooper beipflichten, dass sich daraus kaum etwas ableiten ließ. Früher hätte es solche Kräuter nur in asiatischen Spezialitätengeschäften gegeben. Heutzutage bekam man sie in jeder Apotheke und allen besseren Feinkostläden.
»Bitte schreib es auf die Tafel, Sachs.«
Während sie die Tabelle erweiterte, musterte er eine Reihe von kleinen Beweismitteltüten, deren Registrierkarten in Sachs’ Handschrift ausgefüllt waren. Sie hatte Längenangaben und Himmelsrichtungen verzeichnet.
»Zehn kleine Indianer«, sagte Rhyme neugierig. »Was haben wir denn da?«
»Ich habe mich geärgert, Rhyme. Nein, ich war stinksauer.«
»Gut. Ich finde Wut befreiend. Warum?«
»Weil wir ihn nicht aufspüren können. Daher habe ich Proben von Stellen genommen, an denen er gewesen sein könnte. Ich bin in ein paar wirklich finsteren Ecken herumgekrochen, Rhyme.«
»Daher der Fleck.« Er sah ihre Stirn an.
Sie bemerkte seinen Blick. »Ich wasche das später ab.« Ein Lächeln. Verführerisch, dachte er.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Nun, mach dich an die Arbeit. Sag mir, was du findest.«
Sie streifte Handschuhe über und schüttete die Proben in zehn Petrischalen. Mit einer Vergrößerungsbrille und einer sterilen
Sonde ging sie dann den Inhalt jeder der Tüten durch. Schmutz, Zigarettenstummel, Papierschnipsel, Schrauben und Muttern, Rattenkot, Haare, Stofffetzen, Verpackungen von Süßigkeiten und Fast Food, Betonkrümel, Metallspäne, Steinchen. Die Epidermis des unterirdischen New York.
Rhyme hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es bei der Untersuchung eines Tatorts darauf ankam, Muster zu erkennen. Was wiederholte sich häufig? Objekte dieser Kategorie konnte man vermutlich aussondern. Die einzigartigen Dinge, die fehl am Platz wirkten, konnten hingegen relevant sein. Statistiker und Soziologen nannten so etwas Ausreißer.
Nahezu alle von Sachs’ Funden tauchten in jeder der Petrischalen auf, mit einer Ausnahme: ein winziger, fast kreisrunder Streifen aus gebogenem Metall mit ungefähr dem doppelten Durchmesser einer Bleistiftmine. Es gab zwar noch zahlreiche andere Metallstücke – Teile von Schrauben, Muttern und Spänen – , aber keines davon ähnelte diesem.
Außerdem war es sauber, was darauf hindeutete, dass es noch nicht lange dort gelegen hatte.
»Woher stammt das, Sachs?«
Sie richtete sich auf und streckte sich. Dann las sie das Etikett der Tüte ab, die vor der entsprechenden Petrischale lag.
»Von einer Stelle sechs Meter südwestlich des Aufzugschachtes, unter einem Tragbalken. Galt hätte von dort aus seine gesamten Verkabelungen überblicken können.«
Wegen des Balkens musste der Mann sich in geduckter Haltung befunden haben. Das Metallstück konnte aus dem Hosenaufschlag oder von seiner Kleidung abgefallen sein. Rhyme bat Sachs, es ihn aus
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