Opferlämmer
»Das sind die Angestellten, gegen die im letzten halben Jahr Disziplinarmaßnahmen verhängt wurden oder die aus diversen Gründen entlassen werden mussten – psychische Probleme, positive Drogentests, Alkohol am Arbeitsplatz.«
»Nur acht«, stellte Jessen fest.
Schwang da Stolz in ihrer Stimme mit?
Sachs verglich die beiden Listen. Keiner der Problemfälle besaß Zugang zu den Computercodes. Sie war enttäuscht; sie hatte auf einen Treffer gehofft.
Jessen dankte Wahl.
»Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen, Detective.«
Auch Amelia bedankte sich bei dem Sicherheitschef, der daraufhin das Büro verließ. Dann wandte sie sich an Jessen. »Ich hätte gern die Personalakten von allen auf der Liste. Oder etwaige Beurteilungen, Lebensläufe. Was auch immer Sie haben.«
»Ja, das lässt sich machen.« Sie bat ihre Assistentin, sich die Liste zu kopieren und die entsprechenden Personalinformationen zusammenzustellen.
Ein weiterer Mann betrat Jessens Büro. Er war ein wenig außer Atem. Sachs schätzte ihn auf Mitte vierzig. Mit seinen weichen Zügen und dem widerspenstigen braunen Haar sah er trotz einiger grauer Strähnen irgendwie jungenhaft aus. Niedlich , dachte Sachs. Er hatte funkelnde Augen unter geschwungenen Brauen und wirkte etwas hektisch. Die Ärmel seines zerknitterten
Hemdes waren hochgekrempelt, und er hatte offenbar Krümel auf der Hose.
»Detective Sachs«, sagte Jessen. »Das ist Charlie Sommers, unser Manager für Sonderprojekte.«
Er gab Amelia die Hand.
Jessen sah auf die Uhr, stand auf und zog ein Jackett über, das sie aus einem großen Kleiderschrank auswählte. Sachs fragte sich, ob sie wohl manchmal im Büro übernachtete. Die Generaldirektorin wischte sich einige Schuppen oder etwas Staub von den Schultern. »Ich habe jetzt einen Termin mit unserer PR-Firma und dann eine Pressekonferenz. Charles, könnten Sie Detective Sachs in Ihr Büro mitnehmen? Sie hat einige Fragen an Sie. Bitte seien Sie ihr uneingeschränkt behilflich.«
»Natürlich, sehr gern.«
Jessens Blick schweifte zum Fenster hinaus über ihr Reich – das riesige Gebäude, die Anlagen und Aufbauten aus Türmen, Kabeln und Gerüsten. Mit dem schimmernden East River, der im Hintergrund schnell vorbeiströmte, wirkte sie wie die Kapitänin eines gewaltigen Schiffes. Die Frau rieb zwanghaft den rechten Daumen und den Zeigefinger aneinander, eine Stressgeste, die Sachs sofort erkannte, denn sie selbst machte oft die gleiche Bewegung.
»Detective Sachs, wie viel Kabel hat er für seinen Anschlag verwendet?«
Sachs verriet es ihr.
Die Firmenchefin nickte, ohne die Augen vom Fenster abzuwenden. »Demnach hat er noch genug für sechs oder sieben weitere Attentate. Falls wir ihn nicht aufhalten können.«
Andi Jessen schien darauf keine Reaktion zu erwarten. Ihre Worte schienen nicht einmal an eine bestimmte Person gerichtet zu sein.
... Achtzehn
Nach Feierabend änderte sich das Straßenbild rund um den Tompkins Square Park im East Village. Junge Eltern, manche in Edelklamotten, andere gepierct und tätowiert, unternahmen Spaziergänge mit ihren kleinen Kindern. Man sah Musiker, Liebespaare und scharenweise Twens, die von ihren verhassten Jobs nach Hause kamen und sich auf ihre abendlichen Aktivitäten freuten. Es roch nach Hotdogs, Pot, Curry und Weihrauch.
Fred Dellray saß auf einer Bank in der Nähe einer großen, ausladenden Ulme. Bei seiner Ankunft hatte er die kleine Gedenktafel dort gelesen und erfahren, dass dies der Ort war, an dem der Gründer der Hare-Krishna-Bewegung im Jahre 1966 das Mantra der Gruppe zum ersten Mal außerhalb Indiens angestimmt hatte.
Das war neu für Dellray gewesen. Er zog zwar die weltliche Philosophie der Theologie vor, hatte sich jedoch eingehend mit allen größeren Religionen beschäftigt und wusste, dass die Hare-Krishna-Sekte sich bei der Verfolgung ihres Dharmas, des rechten Weges, an vier Grundregeln hielt: Barmherzigkeit, Selbstbeherrschung, Aufrichtigkeit sowie die Reinheit von Körper und Geist.
Dellray sinnierte, wie ausgeprägt diese Qualitäten im heutigen New York verglichen mit dem südlichen Asien wohl sein mochten, als hinter ihm ein scharrendes Schrittgeräusch zu hören war.
Seine Hand schaffte es nicht mal halb bis zur Waffe. »Fred«, sagte eine Stimme.
Es beunruhigte Dellray zutiefst, dass er sich hatte überrumpeln lassen. William Brent wollte ihm nichts tun, aber es wäre dem Mann mühelos möglich gewesen.
Ein weiteres
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