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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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in Manhattan selten und wertvoll war. Um dorthin zu gelangen, musste sie die sanft beleuchtete, eichengetäfelte Lounge des Hotels durchqueren. Plötzlich hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.
    Als sie stehenblieb und sich umdrehte, erblickte sie Captain Vincent Egan, der am Ende der langen Bar saß.
    Sie lächelte und wollte weitergehen; sie musste wirklich dringend. Doch sie konnte den Mann, der ihr Revier leitete und der in vielerlei Hinsicht ihre Zukunft in den Händen hielt, nicht einfach ignorieren oder unhöflich behandeln.
    »Captain Egan! Hallo!« Sie tat angenehm überrascht – ziemlich überzeugend, wie sie dachte –, während sie gegen den Drang ankämpfte, ihre Beinen zu überkreuzen.
    Vielleicht war sie zu überzeugend gewesen. Egan hievte seinen massigen, stiernackigen Körper vom Barhocker und kam auf sie zu. Als sie seinen unsicheren Gang und seine glasigen blauen Augen sah, erkannte sie schockiert, dass er betrunken war.
    »Sind Sie undercover?«, fragte er und kam dabei so nah an sie heran, dass sie den Bourbon riechen konnte, den er getrunken hatte, und zwar nicht zu wenig. Sie warf einen Blick zu dem Whiskeyglass auf der Bar. Bis auf ein paar halbgeschmolzene Eiswürfel war es leer. »Wenn Sie undercover sind, hätt’n Sie mich nicht Captain nenn’ dürf’n«, lallte er.
    Und ich muss dringend aufs Klo . »Ich weiß, Sir. Ich bin nicht undercover. Ich habe frei und bin mit jemandem zum Essen verabredet. Ich habe nur hier angehalten, um die Toilette zu benutzen.«
    Sie sah, wie sich seine Augen fokussierten und ihren Körper hoch- und runterwanderten. Sie trug einen Pullover, einen Rock und dunkelblaue High Heels. Der Pullover war vielleicht ein wenig zu eng. Pearl hatte sich schick gemacht für den Mann, mit dem sie verabredet war, einem jungen Staatsanwalt, mit dem sie im Gericht ins Gespräch gekommen war. Sie hatte keine große Hoffnung, dass aus dem Essen mehr wurde, aber sie musste es wenigstens versuchen. Das hatte sie sich zumindest gesagt.
    Egan schwankte hin und her, so als ob er an Deck eines Schiffes stünde, während er auf ihre Brüste starrte. »Hab Sie noch nie scho aufgetakelt geseh’n.«
    Oh, oh . Er war tatsächlich ziemlich besoffen. Sie hatte das erste Mal richtig gehört – er lallte.
    »Hab Sie noch nie scho hübsch geseh’n.«
    Und Sie haben noch nie gesehen, wie ich mir in der Öffentlichkeit in die Hose mache.
    »Sie ham tolle …«, sagte er. »Ich mein, ich hab Sie schon immer bewundert, Offischer Kaschner.«
    »Captain Egan, hören Sie, ich muss …«
    Seine fleischige Hand ruhte auf ihrer Schulter. »Politik, Offischer Kaschner. Sie sind ein guter Offischer, und das hab ich bemerkt. Sehr, sehr fleißig. Zielstrebig. Aber ham Sie überlegt, welche Rolle Politik in Ihrer Karriere spielt?« Etwas Spucke spritzte aus seinem Mund, als er die Frage stellte.
    »Ja, sicher. Politik. Ich muss wirklich …«
    Er kam bis auf wenige Zentimeter an sie heran, und seine Fingerspitzen streichelten ihre Wange. »Hör’n Sie, Boxer …«
    »Ich mag es nicht, so genannt zu werden, Captain.« Sie wusste, dass sich dieser Spitzname auf ihre Kampflust bezog, sie glaubte aber auch, dass manche ihrer Kollegen dabei an ihre Nase dachten. Einer von ihnen hatte sogar gesagt, dass man eine Nase wie die ihre nicht gerade bei einem Mädchen erwartete, das Kasner hieß. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu sagen, dass ihre Mutter eine waschechte Irin war. Stattdessen hatte sie ihm, ohne zu lächeln, ihren Ellbogen in die Rippen gerammt.
    Aber Captain Egan hatte gelächelt, und es war ein Lächeln, das Pearl schon bei zu vielen Männern gesehen hatte. »Ich kenn zufällig den Hotelmanager, und ich kann ein Zimmer für die Nacht besorgen«, sagte er. »Wir paschen gut zuschammen, wie ich sehe. Das heischt, wir mögen einander. Das merk ich. Es wär in unserer beider Interesche, über ein Zimmer nachzudenken.« Er schwankte näher heran. »Sie haben alle eine Toilette.
    »Keine gute Idee, Captain.«
    »Aber ich dachte, Sie … äh, müssen.« Er zwinkerte. Ihr wurde bewusst, dass er sich für charmant hielt.
    »So dringend ist es nicht.« Sich wich zurück, damit seine Finger nicht länger ihr Gesicht berühren konnten. Der Bastard glaubte ernsthaft, er hätte eine Chance bei ihr. Es kotzte sie an. Wenn sie nicht so dringend müsste …
    »Ich bin Ihr Vorgeschetzter, Boxer.« Seine Hand, die plötzlich keinen Halt mehr hatte, fiel auf ihre linke Brust und klebte dort wie eine Klette.

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