Opferschrei
nach dem gefalteten Tuch neben sich und hielt es geübt an die Nase, den kleinen Finger abgespreizt, und atmete tief ein.
Weiß! Weiß bis zum Horizont … die feine Linie des Horizonts, die die Erde vom Himmel scheidet, Fleisch von Knochen, Gegenwart von Vergangenheit, eine Welt von der anderen …
Das Feuer im Mark, des Messers Schneide.
49
Bereit für das Schachspiel.
Dr. Rita Maxwell stand wie immer hinter ihrem Schreibtisch, als David Blank ihr Sprechzimmer betrat. Es war gut, zu stehen und zu lächeln. So nahm man dem Patienten die Nervosität, bewahrte sich aber trotzdem seine Autorität.
»David, schön Sie zu sehen.«
Er lächelte zurück. »Gleichfalls, Dr. Maxwell.«
Wie liebenswürdig und kooperativ wir heute Nachmittag sind. »Setzen Sie sich doch hin, David, die Uhr läuft.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Da sagen Sie was Wahres, Doktor.«
Sie setzte sich dieses Mal aufs Sofa, ganz informell, während er sich in seinem Lieblingssessel niederließ. Die Lehne stellte er so weit nach hinten, dass er fast lag. Aus dieser Position heraus beobachtete er sie aus den Winkeln seiner halb geschlossenen Augen, fast so, als würde er sich schlafend stellen.
»Hier geht es um nichts anderes als die Wahrheit«, sagte sie, ohne weiter darauf einzugehen. Sie beabsichtigte, in dieser Sitzung ein gutes Stück voranzukommen, eine weitere Schicht abzutragen, unter der sich der wahre David Blank verbarg. David Blank, der in keinem Telefonbuch stand, der in keinem öffentlichen Verzeichnis von New York, zu dem sie mit ihrem Computer Zugang hatte, gelistet war. Wer bist du?
Und wieder einmal brachte er sie aus dem Konzept. »Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich so ausweichend gewesen bin«, sagte er, die Augen halb geschlossen. »Ich habe die Wahrheit vermieden, ich habe Sie angelogen.«
»Das habe ich angenommen«, sagte sie und schaffte es, nicht ironisch dabei zu klingen.
»Das hier fällt mir nicht leicht«, sagte Blank, ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern. Seine Augen waren immer noch geschlossen, so als ob er ein Nickerchen machen und gleichzeitig reden würde.
»Wie ein Geständnis?«, fragte Dr. Maxwell. Sie fragte sich, ob er mit ihr spielte und ihr gleich eine noch viel größere Lüge als die bisherigen auftischen würde, wenn das überhaupt möglich war.
»Nun, vielleicht … Warum würden Sie es so bezeichnen? Ein Geständnis?«
»Um ehrlich zu sein, spricht für mich aus vielem von dem, was Sie mir erzählen, Schuld.
»Welche Art von Schuld?«
»Es gibt nur eine Art.«
»Oh, das ist wunderbar, Doktor! Sie wissen es! Schuld besteht immer aus sämtlichen Farben, ein grässlich brummendes Grau.«
»Das ist eine sehr anschauliche Beschreibung. Wirklich. Ich möchte Ihnen versichern, dass alles, was Sie hier gestehen, streng vertraulich ist und sehr befreiend wirken wird. Und es bleibt unter uns, das verspreche ich Ihnen.«
»Befreiend …« Er ließ das Wort auf der Zunge zergehen.
»Glauben Sie mir?«
»O ja. Genau deshalb bin ich hier.«
Dr. Maxwell gefiel seine Antwort. Mit einem schnellen Blick versicherte sie sich, dass das Diktiergerät auf ihrem Schreibtisch eingeschaltet war. Man konnte es nicht hören, aber das stecknadelgroße Kontrolllämpchen leuchtete beruhigend.
»Wir könnten damit anfangen«, sagte Dr. Maxwell, »dass Sie mir Ihren richtigen Namen sagen.«
» Ihr richtiger Name ist Rita.«
Er wich aus. Und das ganz offen. Er war noch nicht ganz bereit, die Kontrolle aufzugeben. »Ja, das stimmt.« Sie achtete darauf, dass ihre Stimme neutral klang.
Er hielt seine Augen geschlossen, während er sprach. Seine Pupillen schienen völlig bewegungslos unter der dünnen Haut der Augenlider zu liegen. »Wenn jemand etwas gestehen möchte, Rita … sagen wir, etwas gestehen muss , wenn Sie wissen, was ich meine …«
»Ich weiß es, David.« Red weiter, red weiter.
»Sagen wir, wie ein Serienmörder, der sich heimlich danach sehnt, dass man ihn stoppt, dass man ihn schnappt; wie würde ein Serienmörder mit dem heimtückischen Druck umgehen, der selbstzerstörerischen Gefahr, die sein immer stärker werdendes Verlangen zu gestehen mit sich bringt?«
Oha! »Das ist eine gute Frage.«
»Haben Sie eine gute Antwort?«
»Ich fürchte nicht. Noch nicht.«
»Aber ich.«
Dr. Maxwell warf unwillkürlich einen Blick zur geschlossenen Tür. Es kam nicht oft vor, dass sie während ihrer Sitzungen Angst bekam. Und sie war noch nicht bereit, sich einzugestehen, dass sie
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