Opferschrei
nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Ein Blick, der ihr Angst einjagte. »Und du wirst es auch nicht.«
Pearl nickte und legte den Gang ein.
Sie dachte über den Ausdruck auf Quinns Gesicht nach, über das, was sie in seinen Augen gesehen hatte. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. Sie machte den Job schon lange genug, um zu wissen, wie die Menschen tickten, vor allem die Männer. Die wirklich bösen Jungs. Die dunkle Seite. Der Schmerz hatte Quinn stärker gemacht und zu einem Mann werden lassen, mit dem man sich besser nicht anlegte. Gerade hatte sie einen Blick auf sein wahres, sein gefährliches Gesicht erhascht.
Pearl fühlte sich davon angezogen, trotzdem beschloss sie, sich lieber zurückzuhalten.
Zumindest bis er, mit ihrer Hilfe, lockerer geworden war. Und sie konnte ihm tatsächlich helfen, weil sie wusste, wie Typen wie er tickten – sie tickten alle gleich. Quinn konnte seine Wut nicht loslassen, weil er glaubte, sie mache ihn stark.
Das würde sie ändern müssen.
Das und ein paar andere Dinge.
48
Fedderman traf Quinn und Pearl zum Mittagessen in dem Restaurant auf der Amsterdam Avenue. Sie saßen am Fenster, das zur Straße hinausging. Die Sonne knallte durch das schmutzige Glas, und es war viel zu warm. Außerdem war es laut, und das Essen war nicht besonders gut. Auf dem Fensterbrett lagen tote Fliegen.
Pearl fürchtete sich davor, das Tunfisch-Sandwich zu essen, das sie bestellt hatte. Quinn stocherte in seinem Eiweiß-Omelette herum. Fedderman äußerte Zweifel über seinen Burger, schlang ihn aber trotzdem hinunter. Pearl vermutete, dass ihm schlecht davon werden würde. Sie sagte, dass sie nie wieder hierher zurückkommen würden. Keiner der Männer widersprach.
»Also, was hast du aus Janet Hofer herausbekommen?«, fragte Quinn Fedderman, während er durch einen Strohhalm an seiner Cola light trank. Er war sich sicher, dass der Kerl hinter der Bar es vergeigt und ihm richtige Cola eingeschenkt hatte.
»Nette Frau, verkauft Schmuck. Ich habe das hier bei ihr gekauft.« Fedderman nahm seine wattierte Anzugsjacke vom Stuhl neben sich und hielt sie hoch, um ihnen den strassbesetzten rot-weiß-blauen Zylinder zu zeigen, der ans Rever gepinnt war.
»Wie patriotisch«, sagte Pearl.
»Es hat weniger gekostet, als du glaubst.«
»Du hast keine Ahnung, was ich glaube.«
»Hey! Ganz ruhig, Pearl.«
»Konzentrier dich auf die Arbeit, Feds, damit wir so schnell wie möglich aus diesem Dreckloch rauskommen. Ich will nichts über beschissene Anstecknadeln hören.« Sie sah zu Quinn, der offenbar alle Mühe hatte, nicht in Gelächter auszubrechen. Pearl runzelte die Stirn.
»Sie hat recht«, sagte Quinn zu Fedderman. Man konnte das Augenzwinkern in seiner Stimme hören, was Pearl nur noch wütender machte. Aber sie sagte nichts.
Fedderman erzählte ihnen von seinem Gespräch mit Janet Hofer. Es brachte keine neuen Erkenntnisse, aber bestätigte das, was Abby ihnen über das Mittagessen erzählt hatte. Lisa Ide hatte anonyme Geschenke erhalten, darunter teuren Schmuck und ihren geliebten Kaviar. Lisa Ide hatte gelbe Rosen bekommen. Lisa Ide war tot, genau wie ihr Ehemann.
Da es kein Geheimnis war und es sowieso bald in den Nachrichten kommen würde, wenn es nicht schon so weit war, erzählte Quinn Fedderman von den Schüssen, die auf ihn abgefeuert worden waren, und wie er Luther Lunt am Abend zuvor beinahe geschnappt hätte. Er erwähnte weder die Schmerzen in seiner Brust noch die Nacht im Krankenhaus. Auch Pearl sagte nichts.
»Renz gibt die Informationen an die Presse weiter«, sagte Quinn. »Außerdem Details über die Anhaltspunkte, die wir aus dem Mord an Lisa und Leon gewonnen haben.«
»Das wird den Druck auf Lunt erhöhen«, meinte Fedderman besorgt, »und er ist jetzt schon auf der Jagd nach dir.«
»Ich würde eher sagen, dass wir ihn ans Licht der Öffentlichkeit zerren.«
»Oder dass er auf seinem Pfad einfach kehrtgemacht hat wie ein Tiger und jetzt dem Jäger auflauert.«
Pearl sah Fedderman an. »Ich wusste gar nicht, dass du dich mit der Jagd auskennst.«
»Ich kenne mich mit der Jagd auf Menschen aus«, sagte Fedderman, »und den Menschen, die ich jage. Und unser Night Prowler ist kurz davor, durchzudrehen. Wenn er aus den Nachrichten erfährt, dass wir ihm quasi schon auf dem Schoß sitzen, wird er die Wände hochgehen.«
»Da wird er nichts finden außer der Decke«, meinte Quinn.
Fedderman nickte. »Das meine ich ja. Er kann nirgends hin außer zur Tür hinaus, und
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