Opferschrei
allein. Er könnte mit ihr sprechen und sehen, ob es ihr gut ging, bevor er die Stadt verließ. Vielleicht hatte sie ein paar Ideen.
Er konnte sich nicht hundertprozentig sicher sein, dass Milford nicht zu Hause war. Sein Puls wurde schneller, während er auf das Haus zuging und die Stufen zu der breiten Veranda hochstieg. Er sah die Straße hinauf und hinunter. Wenn nicht zufällig irgendwo jemand zu einem Fenster hinausspähte, hatte ihn niemand gesehen. Das einzige unnatürliche Geräusch war die Alarmanlage eines Autos, das ein paar Blocks entfernt beharrlich hupte. Eine Biene summte aus den Ästen eines süßlich duftenden Geißblatts und umrundete Luther, so als ob sie ihn abschätzen und ihm Mut machen wollte.
Ein paar Sekunden, nachdem er die Klingel gedrückt hatte, öffnete Cara die Tür. Überrascht starrte sie ihn an.
Sie schien unversehrt zu sein und sah aus, als ob es ihr gut ginge. Milford hatte alles an Wilde ausgelassen.
»Cara … geht es dir gut?«
»Ja.« Er sah, dass sie geweint hatte. Frische Tränen glitzerten in ihren Augen. »Milford hat Tom Wilde einen Besuch abgestattet«, sagte sie.
»Ich weiß. Ich komme gerade von dort. Wilde musste mich feuern. Milford hat ihn verprügelt und ihm keine andere Wahl gelassen. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, wohin ich gehen soll. Milford ist nicht …?«
»Er ist nicht hier. Nachdem er von Wilde zurück war, ist er zur Arbeit gegangen. In sein Büro in der Mine, wo er die letzten zehn Jahre seines Lebens verbracht hat.«
Sie machte die Tür weiter auf und berührte ihn ganz leicht mit zwei Fingern am Arm. Mit kaum spürbarem Druck zog sie ihn herein, wie durch eine magnetische Kraft, die die beiden durch den geringsten Kontakt miteinander verband.
»Ich musste herkommen und dich sehen«, sagte Luther. Sein Atem stockte ihm im Hals.
Er wollte noch mehr sagen, aber Cara klammerte sich plötzlich an ihn, presste ihre Lippen auf seine und küsste ihn hart auf den Mund. Sie stöhnte und fing an zu zittern. Sie grub ihre Finger in seinen Rücken und drehte ihre Körper so, dass sie sich rückwärts bewegten, weg vom Fenster, damit niemand sie von außen durch die Spitzengardinen sehen konnte.
Als sie sich voneinander lösten, blickte sie ihm in die Augen, als ob sie ihn anbeten wollte, und sagte: »Du bist zum richtigen Ort gekommen. Hier gehörst du hin.«
Er glaubte ihr. Egal welcher Name auf der Hypothek oder der Heiratsurkunde stand, er war derjenige, der hierher, zu Cara gehörte.
Bei Cara war er zu Hause.
26
New York, 2004.
Er wusste, wann sie normalerweise von der Arbeit heimkam, und hatte aus dem Fenster gesehen. Selbst vom zwölften Stockwerk aus hatte er sie sofort erkannt. Er hatte gesehen, wie sie zur Arbeit gegangen war, war ihr gefolgt und hatte zugesehen, wie sie in einem gehobenen Restaurant auf der Central Park West zu Mittag gegessen hatte. Sie trug ein hellgraues Kleid und hatte eine rote Handtasche und einen Regenschirm bei sich, falls es regnen sollte. Er hatte sie an ihren Kleidern erkannt, an ihren langen dunklen Haaren und an ihrem Gang – aufrecht und stolz, den Rücken leicht nach hinten gebogen, den Kopf hoch erhoben, ihre Schritte ein wenig schneller als die der anderen Passanten. Fast so, als würde sie über einen Laufsteg gehen und spüren, dass jemand sie genau beobachtete und trotz der vielen Menschen um sie herum seine ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hatte.
Vielleicht spürte sie es schon. Vielleicht wusste sie es.
Am Ende, wenn sich Schicksal und Zeit vereinen, scheinen sie es alle zu wissen, scheinen sie alle zu begreifen, dass sie es die ganze Zeit über gewusst haben und mich verraten haben. Sie begreifen, was es bedeutet, dass es gerecht ist und dass sie zahlen müssen. Im selben Moment erkennen sie den Sinn des Lebens und des Tods und dass es keinen Unterschied zwischen den beiden gibt. Ein Wimpernschlag, ein stolperndes Herz, ein letzter Atemzug, nichts … das Brummen … Farben so lang wie das Licht, nichts mehr. Ihre letzte Erkenntnis ist Lektion und Geschenk zugleich.
Er warf einen Blick auf die Uhr, dann ging er zum Fenster und zog das Rollo hoch. Er presste seine Stirn gegen das Glas, um einen besseren Blick auf die Straße zu bekommen. Blaue Distanz.
Da war sie!
Ihre Schönheit verschlug ihm den Atem.
Mit großen Schritten strebte Mary Navarre ihrer Wohnung im West End entgegen. Immer wieder musste sie anderen Passanten ausweichen oder langsamere Fußgänger überholen. Sie
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