Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
Vom Netzwerk:
trug den ledernen Riemen ihrer roten Handtasche diagonal über ihrem Oberkörper – eine Vorsichtsmaßnahme gegen Straßendiebe –, den Regenschirm schwang sie bei jedem Schritt wie eine Waffe in ihrer rechten Hand. Ohne das Lächeln auf ihrem Gesicht hätte sie entgegenkommende Leute wahrscheinlich ziemlich eingeschüchtert.
    Sie benutzte das Keypad, um in die Lobby zu gelangen, dann warf sie einen Blick in den Briefkasten, über dem die Nummer ihrer Wohnung angebracht war.
    Nichts außer Werbung und einem Flugblatt, das die Hausbewohner zu einem Nachbarschaftstreffen einlud, bei dem über die Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen gegen Terroranschläge in ihrem Wohnblock diskutiert werden sollte.
    Vielleicht konnte Donald hingehen, dachte Mary, während sie den Briefkasten wieder zuschloss und sich mit ihrem Schlüssel Zutritt zum Korridor und den Aufzügen verschaffte. Als sie auf den Knopf drückte, sah sie, dass einer der Aufzüge im zwölften Stock war, der andere im fünften. Der Pfeil, der auf die Zwölf zeigte, bewegte sich nicht, aber der auf der Fünf fing sofort an, nach unten zu wandern. Er hielt kurz auf der Drei, dann bewegte er sich weiter bis zum Erdgeschoss.
    Als die Tür aufglitt, trat eine beleibte Frau heraus, die sie schon einmal gesehen hatte. Sie trug ein wallendes dunkelblaues Gewand und einem langen scharlachroten Schal, der hinter ihr her flatterte. Sie versucht, schlanker auszusehen. Mary fragte sich, warum übergewichtige Menschen oft versuchten, ihre Masse unter zeltartigen Kleidern zu verbergen, die ihren Leibesumfang nur noch mehr betonten. Dann erinnerte sie sich daran, wie sie an diesem Morgen im Badezimmer auf die Waage gestiegen war, und versuchte, nicht an die zwei Kilo zu denken, die sie im letzten Monat irgendwie zugelegt hatte. Sie und Donald, der selbst um die Mitte herum dicker geworden war, hatten in letzter Zeit zu oft und zu reichhaltig in Restaurants gespeist.
    Das muss ein Ende haben …
    Während sie in den Aufzug stieg und den Knopf für das zwölfte Stockwerk drückte, schwor sich Mary ein weiteres Mal, ab jetzt Diät zu halten. Vielleicht würde sie die Atkins-Methode ausprobieren. Ihr Lieblingsessen war Steak mit Salat, Brötchen und einer Ofenkartoffel, dazu ein kräftiger Martini. Es sollte kein Problem sein, auf die Kartoffel und vielleicht auf eins der Brötchen zu verzichten.
    Der Aufzug verlangsamte sein Tempo, als er sich dem zwölften Stock näherte. Er ruckelte kurz, so als ob er erst die richtige Position finden müsste, dann blieb er stehen und die Tür glitt auf.
    Als Mary in den Flur trat, hörte sie, wie sich die Tür des anderen Aufzugs gerade schloss.
    In der Wohnung hielt sie wie immer kurz inne. Sie bewunderte ihren großzügigen Schnitt und die geschmackvolle Einrichtung. Das alles gehört mir und Donald, dachte sie.
    Erst als sie in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser zu holen, bemerkte sie die beiden eingeschweißten Steaks, die auf dem Küchentisch lagen. Es handelte sich um Edelstücke, dick und leicht marmoriert, genau wie sie es liebte.
    Verwirrt starrte sie die Steaks an. Wie zum Teufel …?
    Hatte sie heute Morgen, als sie sich ein Glas Orangensaft geholt hatte, die Steaks versehentlich aus dem Kühlschrank genommen und dann vergessen?
    Doch das bezweifelte sie. Sie war sich sicher, dass sie das Fleischfach des Kühlschranks überhaupt nicht geöffnet hatte. Es hatte keinen Anlass dafür gegeben. Außerdem konnte sie sich noch nicht einmal daran erinnern, dass die Steaks überhaupt im Kühlschrank gewesen waren. Vielleicht hatte Donald sie gekauft und plante für den Abend ein romantisches Abendessen zu Hause. Vielleicht wollte er sie überraschen, weil sie etwas zu feiern hatten. Das würde alles erklären.
    »Donald?« Ihre Stimme überraschte sie. Sie war höher als sonst. Ängstlich.
    »Donald?« Schon besser.
    Sie ging ins Wohnzimmer und rief noch einmal seinen Namen. Sie rief ihn immer wieder, während sie durch die Wohnung ging und einen Blick in jedes Zimmer warf.
    Sie war allein.
    Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, sah sie, dass eins der Rollos hochgezogen war.
    Noch etwas, das nicht passte.
    Aber sie stellte keine weitere Verbindung her zwischen dem Rollo und den Steaks in der Küche. Wahrscheinlich hatte sie das Rollo hochgezogen und es vergessen. Vielleicht war es aber auch Donald gewesen.
    Mary ließ das Rollo hinunter und stellte – zumindest in ihrem Kopf – die Eleganz und das Gleichgewicht des Raumes wieder her.

Weitere Kostenlose Bücher