Opferschrei
versuchen, sie zu beschützen?
Nein, das könnte alles nur noch schlimmer machen. Nachdem sich Luther um die Schrotflinte gekümmert hatte, hatte er das Haus nach weiteren Waffen durchsucht. Milford war nicht bewaffnet und würde sie nicht erschießen. Und was immer er sonst tun konnte, mit einem Messer oder seinen bloßen Händen … nun, das wäre inzwischen längst geschehen.
Ein Hund begann weit entfernt zu bellen, als ob er Luther daran erinnern wollte, dass die Welt hinter der dunklen Straße weiterging. Es duftete nach frisch gemähtem Gras.
Das Beste war, wenn er zusah, so weit wie möglich vom Haus und dem Stadtteil wegzukommen. Später konnte er anrufen, um zu sehen, ob es Cara gut ging. Er würde sie nicht einfach so aufgeben. Auf gar keinen Fall!
Doch was sollte er jetzt tun?
Wohin sollte er gehen?
Was sollte aus ihm werden?
Es war nicht das erste Mal in seinem jungen Leben, dass er sich genau diese Fragen stellte, auf die er keine Antwort wusste.
Und mit jedem Mal wurden die Angst und die Einsamkeit schlimmer.
Was soll nur aus mir werden?
Luther wachte auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er lag zusammengerollt auf der Sitzbank in Tom Wildes rostigem Pick-up. Die Morgensonne, die durch die gesprungene Frontscheibe schien, blendete ihn.
Er kniff die Augen zusammen und warf einen Blick auf die Uhr. Nach zehn. Nachdem ihm letzte Nacht keine andere Möglichkeit eingefallen war, war er schließlich zu Fuß zu Wildes verschlossener Maler- und Tapezierwerkstatt gegangen und hatte im Führerhaus des alten Trucks, der hinter dem Gebäude geparkt war, einen Schlafplatz gefunden. Am Morgen würde er zur Arbeit gehen und darüber nachdenken, was er auf lange Sicht tun konnte. Solange er einen Job hatte, hatte er Geld und ein paar Möglichkeiten – wenn das Jugendamt niemanden schickte, um ihn zu holen.
Die Chancen standen ziemlich gut, dachte er, dass Milford das Jugendamt nicht sofort informieren würde. Vielleicht war es ihm lieber, wenn Luther es gelang, sich in einen anderen Teil des Landes durchzuschlagen. Dann konnte er sich irgendeine Geschichte ausdenken, warum Luther abgehauen war, anstatt zugeben zu müssen, dass seine Frau mit ihrem Pflegesohn geschlafen hatte. Zudem würden die Zahlungen eingestellt werden, die sie vom Jugendamt dafür erhielten, dass sie sich um Jungs kümmerten, die wie Luther auf die schiefe Bahn geraten waren.
Luther betrachtete sich in dem schmutzigen Rückspiegel und strich seine Haare zurück. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er sah etwas in ihnen, das er seit Kansas City nicht mehr gesehen hatte. Es waren die Augen der Verlorenen und Verzweifelten.
Der Furchtsamen.
Er schob seine Haare hinter die Ohren, dann öffnete er die rostige alte Tür und kletterte aus dem Truck. Wilde war gestern mit dem Van nach Hause gefahren, jetzt stand er aber vorne am Bordstein. Wilde war wohl drinnen und fragte sich bestimmt schon, wo sein Lehrling an diesem strahlend schönen Morgen steckte.
Luther verspürte einen stechenden Schmerz im Kreuz, und eins seiner Beine war steif. Auf dem harten, rissigen Vinyl der Sitzbank war es so unbequem gewesen, dass er nur in kurzen Abschnitten hatte schlafen können.
Er ballte die Fäuste, legte sie hinter seinen Hals und beugte seinen Rumpf nach hinten. Irgendetwas knackte in seiner Wirbelsäule, danach ging es ihm besser. Er fühlte sich wach und stark genug, um zu arbeiten, Zwanzig-Liter-Farbeimer durch die Gegend zu schleppen und Leitern hinaufzuklettern. Zumindest war er sich sicher, arbeiten zu können, wenn er ein paar Lockerungsübungen gemacht hatte.
Während er steifbeinig zur Vorderseite des Gebäudes humpelte, versuchte er, nicht an das zu denken, was am Abend zuvor geschehen war. Doch das war unmöglich.
Er musste es Tom Wilde sagen, denn er würde es früher oder später sowieso herauskriegen. Und bevor sie zu ihrem Einsatzort aufbrachen, wollte er Cara anrufen, selbst wenn das bedeutete, dass er mit Milford sprechen musste. Er wollte sich versichern, dass es Cara gut ging, dass Milford ihr nicht wehgetan hatte.
Wenn Milford ihr doch etwas angetan hatte …
Luther beschloss, erst gar nicht daran zu denken.
Als er die Türe öffnete und in den Raum trat, der als Lager und Büro diente, saß Wilde auf dem Hochstuhl an seiner Werkbank. Er trug keine Arbeitskleidung. Anstelle seines farbbespritzten Overalls hatte er ausgebleichte Jeans und einen dunkelblauen Pullover an, der in einer Stunde viel zu warm sein würde.
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