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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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er ihr gar nicht zu. Nur am Rande nahm sie wahr, dass er sich darüber ausließ, wie er es fände, wenn seine Frau ihm so etwas antun würde. Doch ihre Gedanken gingen eigene Wege. Wenn mich jemand fragen würde, wie viel ich heute Abend schon getrunken habe, würde ich eine Zahl aus dem Ärmel schütteln. Ganz automatisch. Ich würde gar nicht darüber nachdenken. Um mich selbst in ein besseres Licht zu setzen. Machen wir das nicht alle? Ausreden finden, Rechtfertigungen? Selbst der heilige Joe Ashworth. Er liebt seine Arbeit. Es macht ihm nicht mal was aus, vonseiner Frau und seinem Kind getrennt zu sein. Jedenfalls nicht viel. Dann kann er nachts mal durchschlafen und hat Pause von den dreckigen Windeln. Aber was redet er sich ein? Dass er ein Opfer bringt. Und dass er es gern bringt, weil es der Gesellschaft dient. Der reinste Märtyrer.
    Plötzlich merkte sie, dass Joe aufgehört hatte zu reden, und sie merkwürdig ansah.
    «Und?», fragte er.
    «Tut mir leid. Ich war ganz woanders.»
    «Glauben Sie, dass Bennett Mantels Tochter umgebracht hat, um den Selbstmord seines Vaters zu rächen?»
    «Nein», sagte sie. Wenn man sie drängen würde, dann könnte sie bestimmt auch eine vernünftige Begründung liefern, aber selbst das wäre eine Art Lüge. Ihre Antwort gründete darauf, dass sie ihrem eigenen Urteil traute. Auf Vertrauen, nicht auf Vernunft. «Aber den Bruder könnte er umgebracht haben», fuhr sie fort. «Falls Christopher etwas über seine Vergangenheit herausgefunden hat. Um seine neue Identität zu schützen, die glückliche Familie und alles. Ja, ich kann mir durchaus vorstellen, dass Bennett einen Mord begehen würde, um das geheim zu halten.»
    «Sie glauben also, dass es zwei Mörder gegeben haben könnte?» Joe war skeptisch, blieb aber höflich. Das war er immer.
    Glaube ich das? «Wir dürfen keine Möglichkeit ausschließen.» Und ich weiß, dass das eine Ausflucht ist, weil ich mich gerade jetzt nicht gut genug konzentrieren kann, um es gründlich zu durchdenken.
    «Eine Gelegenheit hätte er gehabt», sagte Joe. «Er hätte sich vom Feuer wegstehlen können. Die ganze Zeit über sind Leute gekommen und gegangen. Sie waren doch auch da. Stimmt das mit Ihrer Erinnerung überein?»
    «Aye», sagte sie. «Im Lichtschein des Feuers konnte mannur die Leute sehen, die einem am nächsten standen. Die anderen waren bloß Umrisse.» Sie nahm einen Schluck Whisky, behielt ihn im Mund, schluckte ihn bedächtig hinunter. «Bennett hätte wissen müssen, dass Christopher da sein würde. Er hätte ein Treffen mit ihm ausmachen müssen.»
    «Vielleicht war es ja Bennett, den Christopher versucht hat anzurufen.»
    «Aye», sagte sie. «Vielleicht.» Aber sie konnte sich nicht mehr auf die Einzelheiten konzentrieren. Ihre Phantasie hob ab, wie ein Habicht, der aus dem Kielder Forest aufsteigt, ganz in der Nähe ihres Zuhauses in den Bergen. Sie hatte das Gefühl, sie müsste auf dieses flache, leere Land hier hinunterschauen können, um das Gesamtbild zu erkennen.
    «Was haben Abigail Mantel und Christopher Winter gemeinsam?», fragte sie plötzlich und merkte, noch während sie sprach, dass ihre Stimme zu laut war.
    Joe Ashworth sah sie an. «Nicht viel. Sie war eine verzogene Göre und er ein verkorkster Student.»
    «Beide waren verkorkst, meinen Sie nicht auch?» Sie stieß die Frage heftig hervor.
    «Ich nehme es an.»
    «Von den Eltern?» Vera hätte jetzt Larkin zitieren können, aber Joe wäre entsetzt gewesen.
    «Nun, die Kleine konnte sich an ihre Mutter ja kaum erinnern. Aber ihr Dad war nicht gerade ein Vorbild, wenn Bennett uns die Wahrheit gesagt hat.»
    «Und die Winters? Was halten Sie von denen?»
    «Die sind seltsam», sagte er schließlich. Er schwieg kurz. «Ich weiß nicht, ob ich in der Familie aufwachsen wollte.»
    «Ich frage mich, wie Caroline Fletchers Eltern so sind.» Und die von Michael Long. Und Dan Greenwood. Und wiedie Großeltern waren. Wie weit konnte man zurückgehen? Der Moment der Klarheit, in dem sie den Fall als großes Ganzes gesehen hatte, war verstrichen. Der Habicht hatte eine Bruchlandung hingelegt. Sie war mit Kopfschmerzen hinter den Augen zurückgeblieben – und dem Wissen, dass sie morgen wieder einen Kater haben würde und das flüchtige Aufblitzen einer Lösung vermutlich ein aus dem Alkohol geborenes Trugbild gewesen war.
    «Ich gehe hoch», sagte Joe. «Ich muss zu Hause anrufen   …»
    «Natürlich.»
    «Wenn es nichts mehr gibt   …»
    «Nein», sagte

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