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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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aufpoliert werden? Überarbeitet? Sahen die Frauen, die aus der Kirche kamen, wirklich so aus, als würden sie aufeinander herumpicken? War das der richtige Ausdruck? Und hungerte sie wirklich noch danach,Dan Greenwood zu sehen, obwohl sie jetzt wusste, dass er aus Verlegenheit so auf sie reagiert hatte, nicht aus Begehren? Und ob, dachte sie. Wenn überhaupt, dann wäre «gierig» das passende Wort, um ihre Gefühle zu beschreiben. Aber warum? All ihre Gewissheiten zerbröckelten und verschoben sich. Das alte Leben, das glückliche Familienleben, war auf Geheimnissen und Halbwahrheiten aufgebaut gewesen. Das Bild, das sie von ihren Eltern und von James hatte, war unscharf geworden, wie die Konturen einer schmelzenden Kerze. Seit Christophers Tod kamen ihr ihre Träume von Dan Greenwood wirklicher vor als irgendetwas sonst in ihrem Leben. Sie gaben ihr Trost. Gierig hielt sie daran fest. Sie wollte ihn mehr denn je.
    Sie riss sich vom Fenster los und ging nach unten. James saß mit einem Buch auf dem Schoß im Wohnzimmer. Er hatte die Vorhänge noch nicht zugezogen. Als sie hereinkam, fing er wieder an zu lesen, aber sie wusste, dass er die Stelle, wo er aufgehört hatte, erst suchen musste. Er spielte Theater, ihr zuliebe. Eben noch hatte er ins Feuer gestarrt, meilenweit weg. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob er wohl auch eine erträumte Affäre hatte. Oder sogar eine echte. Das war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Doch jetzt gab es nichts mehr, was sie noch überrascht hätte.
    Für gewöhnlich zog ihn das Lesen ganz in den Bann. Er mochte Bücher, die ihn weiterbrachten und informativ waren, auch wenn es sich um Romane handelte. Jetzt las er gerade einen Reisebericht, dessen Besprechung er in einer der Sonntagszeitungen gefunden und den er übers Netz bestellt hatte. Er sagte, seine erste Chance auf eine gute Ausbildung habe er weggeworfen und jetzt wolle er aufholen. Wenn er über die Bücher sprach, die er las, kam sie sich trotz ihres Abschlusses völlig unwissend vor. Doch seit kurzem, seit Christophers Tod, schien nichts mehr seineAufmerksamkeit fesseln zu können. Sie fragte sich, ob es wohl Schuldgefühle waren, die ihn so zerfraßen. Er hatte Christopher nie besonders gern gehabt, möglicherweise hatte er ihm an jenem letzten Abend, als ihr Bruder ihnen so auf die Nerven gefallen war, sogar den Tod gewünscht. Vielleicht bereute er jetzt, dass er so feindselig gewesen war.
    Sie setzte sich vor James auf den Fußboden, den Rücken gegen seine Beine gelehnt, die Arme um ihre Knie geschlungen, dem Feuer so nah, dass sie spürte, wie ihr Gesicht rot wurde. Sie brauchte den körperlichen Kontakt. James’ knochige Beine gegen ihren Rücken. Die Hitze auf ihrer Stirn. Das verankerte sie in der Gegenwart. Sonst würde sie noch in ihren Geschichten verloren gehen. Wie damals, als Abigail umgebracht wurde. Das gleiche ungläubige Gefühl.
    Sie drehte sich zu ihm um. «Gibt es etwas, worüber du gern reden möchtest?»
    «Zum Beispiel?», fragte er ruhig. Er gab es auf, so zu tun, als würde er lesen, und legte das Buch beiseite. Auf dem Umschlag war ein Kompass abgebildet, ein großer Schiffskompass in einem Messinggehäuse.
    «Zum Beispiel über alles, was hier so geschehen ist. Christopher. Abigail. Ich kann einfach nicht glauben, dass es nochmal passiert ist.» Aber was sie sagte, blieb unzulänglich. Sie konnte ihm nicht erklären, dass sie das Vertrauen in den Alltag verloren hatte, in ihr Gedächtnis.
    «Natürlich reden wir darüber, wenn du meinst, dass es hilft.» Sein Ton machte ihr klar, dass er nicht wusste, was das nützen sollte. Normalerweise wäre sie seiner Meinung gewesen. Als sie noch studiert hatte, waren ihr die Beziehungsanalysen, mit denen ihre Freunde sich beschäftigten, immer bizarr vorgekommen, ein absonderlicher Zeitvertreib.Auch nur Schnüffelei und Klatsch und Tratsch. James’ Zurückhaltung hatte sie anziehend gefunden. Nach Abigails Tod hatten zu viele Leute mit ihr über ihre Gefühle reden wollen.
    «Nein», sagte sie rasch. «Das bringt Christopher nicht wieder zurück, nicht wahr?»
    Sie brachten Matthew ins Bett und waren gerade mit dem Essen fertig, als es an der Tür klopfte. Das erinnerte Emma an den Abend, als Christopher aufgetaucht war, und sie schaute über den Tisch zu James, fragte sich, ob er auch daran dachte, doch er war schon aufgestanden, um an die Tür zu gehen.
    Sie hörte eine gemurmelte Unterhaltung im Flur, dann kam James wieder herein, gefolgt von Vera

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