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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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soll das heißen?»
    «Nach dem Essen ist er nach oben ins Bad gegangen. Ich habe nach dem Kleinen gesehen und gehört, wie er etwas sagte.»
    «Haben Sie gehört, was er sagte?»
    «Ich horche nicht unbedingt an Türen.»
    «Ach nein?» Vera klang aufrichtig überrascht. «Also, ich mache das ständig.»
    «Ich nahm an», sagte James, nachdem er einen Augenblick missbilligend geschwiegen hatte, «dass er mit jemandem in Aberdeen spricht. Vielleicht mit einer Freundin. Um ihr zu sagen, dass er gut angekommen ist. Unser Festnetzanschluss ist in der Küche. Wenn er den benutzt hätte, hätten wir alles mitbekommen. Ich vermute, dass er ein bisschen Privatsphäre wollte.»
    «Klang es denn nach einem Anruf bei einer Freundin?», fragte Vera.
    «Wie ich schon sagte, ich habe nicht zugehört.»
    «Aber seine Stimme, klang die zärtlich? Innig?»
    «Nein», sagte James. «Sie klang eher sachlich.»
    Vera zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und kritzelte schnell ein paar Bemerkungen aufs Papier. «Wir verstehen einfach nicht, wo er den Rest des Tages gewesen ist», sagte sie. «Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Am Friedhof war er so gegen acht Uhr früh, dann hat er, wie wir wissen, den Weg zum Fluss runter genommen.»
    «Woher wissen Sie das?», fragte James. Emma fand, dass er zu laut sprach, zu dringlich. Was für eine Rolle konnte das für ihn spielen?
    «Wir haben Fingerabdrücke in der Telefonzelle gefunden, die dort steht. Sie wissen schon, welche», sagte Vera. Wieder dachte Emma, dass sich das irgendwie falsch anhörte. Es war, als würden die Worte etwas anderes bedeuten, als würden die beiden sich in einer Geheimsprache verständigen, in die sie nicht eingeweiht war. «Wir haben die Abdrücke überprüft, und es sind Christophers», fuhr Vera fort. «Was ich also wissen will, ist, wohin er danach gegangen ist. Wir haben Leute aufgespürt, die an jenem Morgen mit ihren Hunden am Ufer Gassi gegangen sind. Keiner hat ihn gesehen. Den ganzen Tag über waren doch Leute im Dorf unterwegs. Man sollte glauben, dass er mal was essen wollte oder wenigstens einen Tee trinken. Aber er war in keinem Geschäft und auch nicht in der Bäckerei. Offenbar hat er sich ja ziemlich auffällig benommen. Selbst wenn die Angestellten in den Läden ihn nicht kannten, wäre er ihnen doch seltsam vorgekommen. Fällt Ihnen irgendjemand ein, der ihn hätte aufnehmen können? Bei dem er sich hätte verstecken können? Oder jemand, vor dem er sich hätte verstecken wollen?»
    «Nein», sagte sie. «Ich habe das Gefühl, ich wusste genauso wenig über ihn wie über Abigail Mantel. Und jetzt werde ich keine Möglichkeit mehr haben, ihn besser kennenzulernen.»
    «Es tut mir leid.» Vera stand unvermittelt auf und zog sich ihre Strickjacke an, während sie zur Tür ging. «Sie haben wahrlich schon genug, womit Sie fertigwerden müssen. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte, dann rufen Sie uns einfach an.»
    Ashworth, der Sergeant, folgte ihr. Er hatte seit seinem Eintreten kein Wort gesagt, aber an der Tür blieb er kurz stehen und sah Emma mit so viel Mitgefühl und Bedauern an, dass sie plötzlich den Tränen nahe war. «PassenSie auf sich auf», sagte er. Es war, als wäre James gar nicht mehr da.
    Auf einmal war sie wieder ein Kind. Sie war in dem Haus in York und saß auf der Treppe. Sie hatte schon im Bett gelegen, aber irgendetwas hatte sie geweckt, und sie war im Halbschlaf nach unten getappt. Es war Sommer und immer noch hell draußen, der Garten hinter der offenen Tür war angefüllt mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Und den Stimmen ihrer Eltern. Sie sprachen über sie. Sie hörte ihren Namen, das machte sie richtig wach, und sie lief nach unten. Die beiden saßen auf einer Holzbank. Sie rannte hinaus. Die Terrasse war aus alten Steinplatten, rau unter ihren bloßen Füßen, aber noch warm. Ihre Mutter schloss sie in die Arme. Emma hatte erwartet, dass ihre Eltern sie in das Gespräch mit einbeziehen, es ihr erklären würden, denn schließlich hatte sie ja im Mittelpunkt der Unterhaltung gestanden.
    «Worüber habt ihr geredet?», fragte sie.
    «Über nichts, mein Liebling. Nichts Wichtiges.»
    Und Emma war klargeworden, dass es nichts nützen würde, noch einmal zu fragen. Sie war unwiderruflich ausgeschlossen worden. Und jetzt, im Captain’s House, fühlte sie sich wieder genau wie damals.

Kapitel fünfunddreißig
    Am nächsten Tag ging Emma zu Abigails Grab. Sie ließ den Kleinen bei James

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