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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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und ging allein los, sagte bloß, dass ihr die Decke auf den Kopf falle und dass sie etwas Bewegung brauche. Normalerweise begleitete James sie an seinenfreien Tagen überallhin. Es gefiel ihm, wenn sie so viel Zeit wie möglich zu dritt verbrachten. Zumindest gefiel ihm die Vorstellung. Heute ließ er sie gehen, ohne etwas dazu zu sagen, er schien ihre Erklärung nicht einmal zu hören, und wieder fragte sie sich, was ihn wohl so stark beschäftigte.
    Christopher würde nicht auf demselben Friedhof wie Abigail beerdigt werden. Obwohl sie noch nicht wussten, wann die Gerichtsmedizin die Leiche freigeben würde, hatten Mary und Robert bereits beschlossen, dass er eingeäschert werden sollte. Mary hatte gesagt, sie könne die Vorstellung nicht ertragen, dass Fremde kämen, um sein Grab anzustarren. Heutzutage verwandelten sich offenbar selbst zivilisierte Menschen in Voyeure, wenn in den Medien über ein Gewaltverbrechen berichtet wurde. Emma war in der Sache nicht zu Rate gezogen worden, und sie fand, dass das nur gerecht war. Natürlich war sie traurig, dass Christopher tot war, aber sie war nicht am Boden zerstört. Sie war nicht vom Kummer überwältigt, wie man es doch sein sollte, wenn der eigene Bruder ermordet wurde. Sie fragte sich, was mit ihr nicht stimmte.
    Emma fühlte sich schuldig, weil sie seit Christophers Tod kaum mit ihren Eltern gesprochen hatte. Dagegen konnte sie etwas tun, und sie versprach sich selbst, bald hinzufahren und nach ihnen zu sehen. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie es mit einer gewissen Erleichterung hingenommen hatte, dass ihre Eltern sich abschotteten. Wenigstens tauchte ihr Vater nicht mehr alle fünf Minuten vor ihrer Tür auf, um seine moralische Unterstützung und Führung anzubieten. Und sie musste nicht mehr die gehorsame Tochter spielen.
    Als sie den Friedhof erreichte, wusste sie nicht mehr, was sie überhaupt hier wollte. Nach so langer Zeit war ihr Besuch wahrscheinlich eine leere Geste. In letzter Minutewünschte sie, sie hätte Blumen mitgebracht. Das hätte ihrem Besuch einen Sinn verliehen. Sie versuchte sich Abigail vorzustellen, doch woran sie sich auch erinnerte, die Züge des Mädchens entglitten ihr immer wieder, und sie blieb mit dem Geschehen allein zurück. Da gab es zum Beispiel jenen Moment, als Abigail ihr triumphierend verkündet hatte, dass sie Keith endlich überredet habe, Jeanie Long zu sagen, sie müsse ausziehen. Es war ein Freitagabend. Jugendtreff im Gemeindesaal, über den Abigail für gewöhnlich die Nase rümpfte, den Emma jedoch besuchen musste. Ein paar Billardtische und in der Ecke ein Ghettoblaster, aus dem Musik dröhnte, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Der Geruch nach gedünstetem Fisch, der vom gemeinsamen Mittagessen der Senioren zurückgeblieben war. Ein Stand, an dem Chips und Cola aus dem Discounter verkauft wurden, und billige Süßigkeiten: Kaubonbons, Lutscher und diese grellbunten, geflochtenen Zuckerstangen, die sie in einem richtigen Laden noch nie gesehen hatte. Emma wusste noch, dass Abigail in ihrem grünen Glitzertop einfach umwerfend ausgesehen hatte – sie konnte sich an den neidischen Stich erinnern, der sie durchzuckt hatte, als Abigail hereingeschlendert kam   –, aber Abigail selbst sah sie nicht vor sich. Sie konnte sich die Gesichter all der Jungs ins Gedächtnis rufen, die sehnsüchtig dreinschauten, weil sie wussten, dass Abigail unerreichbar für sie war. Auch Christophers Gesicht, denn er war ebenfalls dort gewesen. Er hatte Billard gespielt, sich am Tisch aufgerichtet und einen Augenblick lang unverwandt zu ihr hinübergeschaut. Aber Abigails Gesicht sah sie nicht. Emma konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie Abigail auf die ganze Aufmerksamkeit reagiert hatte.
    Während sie am Grab stand, glitten ihre Gedanken ineine andere Richtung. Anstatt einen Teil des Hintergrunds zu bilden, nahm Christopher plötzlich den Mittelpunkt ein. Hier war der Ort, an dem er zuletzt gesehen worden war. Und wenn die Kommissarin recht hatte, war es ein Ort, den er zuvor häufig aufgesucht hatte. Sie konnte ihn genau vor sich sehen, in dem langen, wehenden Anorak, mit dem strähnigen Haar. Das Gesicht abgespannt vom Schlafmangel und einem Kater. Aber sie hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgegangen sein mochte. Sie spürte die Verzweiflung der verpassten Gelegenheit. Wenn sie doch nur verständnisvoller gewesen wäre, oder bestimmter. Wenn sie ihn doch nur dazu gebracht hätte, ihr zu erzählen, was er

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