Opferschuld
Fassung wiederzugewinnen. Auf der anderen Straßenseite tauchte die unförmige Gestalt Vera Stanhopes in der Tür zur Bäckerei auf. Sie krümmte den Finger und gab Emma ein Zeichen, zu ihr zu kommen. Wie die Hexe in
Hänsel und Gretel
, dachte Emma, die die zwei ins Pfefferkuchenhaus lockt. Und genau wie die Kinder spürte sie den Drang zu gehorchen.
«Was haben Sie denn Schönes gemacht?», fragte Vera.
«Ich war spazieren. Bin Dan über den Weg gelaufen. Er hat mich auf einen Kaffee eingeladen.»
«Soso, hat er das.» Eine Pause entstand, die Emma nicht deuten konnte. Dann fügte Vera beiläufig hinzu: «In Ihrem Alter sollten Sie es aber besser wissen und nicht mit fremden Männern mitgehen.»
«Dan Greenwood ist kein Fremder.»
Wieder entstand eine Pause. «Vielleicht nicht. Wie auch immer, passen Sie auf sich auf.» Die gleiche Empfehlung, die Joe Ashworth ihr gegeben hatte, als sie sich zuletzt begegnet waren. Die Kommissarin winkte kurz und ging davon, und Emma blieb mit dem Gefühl zurück, dass man sie vor etwas gewarnt hatte.
Kapitel sechsunddreißig
Michael Long hatte Vera schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Zumindest nicht in Ruhe. Manchmal sah er sie kurz auf der Straße, und einmal war er zu ihr hingegangen, aber sie hatte ihm nur freundlich zugewinkt und war weitergelaufen, als hätte sie zu viel zu tun. Wenigstens glaubte er, dass sie diesen Eindruck erwecken wollte, und das ärgerte ihn. Er hatte Besseres verdient. Nicht nur, dass er Jeanies Vater war, er hatte Vera doch auch auf die richtige Spur gebracht, was Keith Mantel betraf. Und er war ein wichtiger Zeuge, der Letzte, der Christopher Winter lebend gesehen hatte. Michael hätte es nie so ausgedrückt, aber er kam sich vor wie ein sitzengelassener Liebhaber. Er wollte, dass Vera ihm wieder Beachtung schenkte. Er blieb zu Hause,falls sie anrief. Wann immer es an der Tür klopfte, hoffte er, dass sie es war.
Dann dachte er:
Pfeif drauf.
Für keine Frau der Welt würde er seine Zeit mit Warten vertun. Er würde eigene Nachforschungen anstellen, seine eigenen Informationen sammeln, und die würde er ihr dann zeigen. Er stellte sich vor, wie er ihr einen dicken Ordner über Mantel überreichte, alles fein säuberlich abgeheftet und mit der Maschine geschrieben. Darin würde alles stehen, was sie brauchte, um zu belegen, dass der Mann ein Mörder war. Denn genau das wollte Michael ihr beweisen. Mantel war ein Monster, der seine eigene Tochter und den jungen Winter umgebracht hatte. Und Mantel war schuld daran, dass Jeanie all die Jahre im Gefängnis gesessen hatte, er war schuld an ihrer Verzweiflung und dem Selbstmord.
Michael nahm den Bus nach Crill, wo Mantel seinerzeit das erste Geld gemacht hatte. Er wusste, dass es dort eine große Bücherei gab. Auch die High School war dort, und im Bus waren lauter Kinder auf dem Weg zur Schule. Er redete sich ein, wie lästig das doch sei, und tatsächlich brachte ihn der Lärm der kreischenden Mädchen und Jungen, die sich pausenlos mit irgendwas bewarfen, schier zur Weißglut. Leise brummelte er etwas von pflichtvergessenen Eltern und der Wiedereinführung des Wehrdienstes vor sich hin. Doch es hatte auch seine guten Seiten. Der Bus war voll, und er saß eingezwängt neben einem Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren mit einem hellgepuderten Gesicht und schmalen, schwarz umrandeten Augen. Sie schien über das Chaos um sich herum erhaben zu sein, und das Geschrei und die herumfliegenden Wurfgeschosse nervten sie ebenso wie ihn. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da, ihre Tasche auf dem Schoß. «Warum wirst du nicht einfach erwachsen?», schnauzte sieeinen Jungen mit einem von Akne entstellten Gesicht an, als ein Bleistiftspitzer sein Ziel verfehlte und sie am Arm traf. Dann wandte sie sich zu Michael und verdrehte verschwörerisch die Augen, als wären sie beide die einzig Vernünftigen im ganzen Bus.
Als sie in Crill ausstiegen, auf dem windgepeitschten Platz unweit der Strandpromenade, ließ er sie nur ungern ziehen. Er war versucht, ihr zu folgen, nur um des Vergnügens willen, sie gehen zu sehen. Sie hielt den Rücken gerade, hatte lange Beine und eine hochmütige Kopfhaltung. Aber er sagte sich, dass er noch zu tun habe. Auf dem Platz waren Gemeindearbeiter damit beschäftigt, von einem Laster mit Hebebühne aus die Weihnachtsbeleuchtung anzubringen. Die Bücherei war ein großes Gebäude mit Säulen neben dem Eingang und breiten Steinstufen, die zu einer Glastür führten.
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