Opferschuld
Sie war geschlossen und öffnete erst um halb zehn. Sein Ärger kochte wieder hoch. Heftig schimpfte er über die Faulheit der Mitarbeiter. Immerhin hätte er mit dem Mädchen bis zur Schule gehen können. Dann sagte er sich, dass es nicht gut wäre, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Peg hatte ihm immer gesagt, dass er eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde, wenn er nicht lernte, sich zu beherrschen.
Er fragte einen der Arbeiter, wo er einen Kaffee trinken könne, und der zeigte eine enge Straße hinunter. Das Café hieß
Val’s Diner
und war laut und dampfig. Es erinnerte ihn an den Imbiss auf der Landspitze. Der Bacon in seinem Sandwich war genau so, wie er ihn mochte, dünn und knusprig, und seine Laune besserte sich. Es brauchte im Moment wirklich nur Kleinigkeiten, dachte er, und seine Stimmung kippte. Er fragte sich, ob er wohl schon immer so gewesen war und ob es anderen auch so ging.
Die Frau, die in der Bibliothek die Abteilung für Heimatgeschichteleitete, kannte er. Sie hieß Lesley, war tüchtig und vergnügt und hatte eine laute Stimme, weshalb die Besucher im Lesesaal oft aufschauten und missbilligend mit der Zunge schnalzten. Das erste Mal war er ihr kurz vor seinem Ruhestand begegnet. Er war plötzlich nostalgisch geworden, was den Beruf betraf, den er im Begriff war aufzugeben. Lesley führte das Archiv über die Rettungswache und die Lotsenstation auf der Landspitze, und er war hergekommen, um etwas über die Geschichte dieses Orts zu lesen. Er hatte ein Foto von dem Haus gefunden, in dem er und Peg all die Jahre über gelebt hatten. Es stammte aus den zwanziger Jahren, die Landspitze hatte damals noch ganz anders ausgesehen. Die Sanddünen waren größer gewesen, und außer den beiden Cottages und dem Leuchtturm gab es keine Gebäude. Vor ihrem Cottage lehnte ein Mann mit einem großen grauen Schnurrbart an der Eingangstür und blickte finster in die Kamera.
Lesley saß an ihrem Schreibtisch und schaute hoch, als sie ihn kommen sah. Er merkte sofort, dass sie über das mit Jeanie in der Zeitung gelesen hatte, aber sie sagte nichts. Sie zeigte nicht einmal, dass sie ihn wiedererkannte, was er ernüchternd fand, denn als er seine Nachforschungen über die Landspitze angestellt hatte, hatte er gedacht, sie würde ihn mögen. Er fragte nach alten Ausgaben der Lokalzeitung, die zwanzig oder dreißig Jahre zurückreichten. «Kann man die einsehen?»
«Aber sicher», sagte sie und lächelte. «Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?» So wie sie von ihrem Schreibtisch zu ihm hochblickte, sah es aus, als blinzelte sie ihm zu.
«Nein, nichts Bestimmtes. Ich bin nur allgemein daran interessiert.» Gleich darauf tat es ihm leid, dass er so grob gewesen war, aber sie hatte es offenbar gar nicht bemerkt. Sie setzte ihn vor das Mikrofiche-Gerät und zeigte ihm, wieman es bediente, wobei sie ihre Anweisungen geduldig wiederholte, als er sie darum bat.
«Wenn Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie mich einfach.» Ihre Stimme war im ganzen Saal zu hören.
Er fing mit dem Zeitpunkt des Mordes an Abigail an und arbeitete sich von dort aus zurück. Über die Berichte von dem Mord ging er schnell hinweg, und als er auf ein Foto von Jeanie stieß, schloss er die Augen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie hier in diesem Gerät gefangen war, wo jeder herkommen und sie anstarren konnte. Es waren die weniger spektakulären Geschichten, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das größte Containerschiff, das je auf dem Humber gefahren war. Kühe, die bei Ebbe den Fluss überquerten und auf einer Sandbank strandeten. Eine festliche Veranstaltung mit prächtigen Schiffen in der Flussmündung. Als er auf die Uhr an der Wand sah, war es schon fast elf, und er hatte noch nichts Brauchbares gefunden. Er zwang sich, schneller zu arbeiten, und nach und nach stieß er auf immer mehr Berichte, in denen Keith Mantel erwähnt wurde. Kleine Meldungen und Fotos. Michael folgte ihm in seine Vergangenheit, es war, als würde er sich einen flackernden alten Film anschauen, der rückwärts abgespult wird.
Die jüngsten Berichte, zu denen er zuerst kam, waren alle lobend, und er musste an sich halten, um nicht höhnisch aufzulachen. Da war ein Foto von Keith Mantel, wie er neben einem riesigen Scheck aus Pappe stand, der Spende der
Mantel Development
an eine Wohlfahrtseinrichtung, die Tagesbetreuung für behinderte Kinder anbot. Ein strahlendes Mädchen im Rollstuhl streckte die Arme aus, um das andere Ende des
Weitere Kostenlose Bücher