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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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ein. Er fand einen Artikel über die gerichtliche Untersuchung von Shaws Tod. Selbstmord. Shaw hatte eine Nachricht hinterlassen, es war ein klarer Fall. Was ihn dazu gebracht hatte, stand nicht da. Armer dämlicher Trottel, dachte Michael jetzt. Damals war er nicht so mitfühlend gewesen. Er hatte Selbstmord immer für feige gehalten. In dem Bericht stand, dass der Tote eine Frau und einen Sohn hinterlasse. Michael konnte sich nicht entsinnen, ob er das damals mitbekommen hatte. Plötzlich fühlte er sich schäbig, hier in der Vergangenheit herumzuwühlen, und wollte schon aufgeben. Dann sah er durch das hohe Fenster nach draußen über den Platz zu den Männern, die immer noch dabei waren, die billigen Lichter aufzuhängen, und ihm wurde bewusst, dass er nichts Besseres zu tun hatte.
    Beinahe hätte er das Foto nicht weiter beachtet. Es sah fast genauso aus wie die Bilder aus den jüngeren Berichten. Keith Mantel als Lokalmatador. Es zeigte die Einweihungeines Gebäudekomplexes für Senioren im betreuten Wohnen. An so einem Ort würde auch Michael enden, wenn er nicht besser auf sich aufpasste. Das Bild war in einem gepflasterten Innenhof voller Blumenkübel aufgenommen worden. Das Ziegelsteingebäude hinter den versammelten Menschen sah erbarmungslos neu und nüchtern aus. Die Bürgermeisterin, eine mollige Frau in mittleren Jahren, hielt eine Schere in der Hand, um das Band, das vor die Eingangstür gespannt war, durchzuschneiden. Neben ihr stand Mantel, und um die beiden drängten sich zahlreiche Ratsmitglieder mit ihren Familien. Da muss es wohl ein kostenloses Buffet gegeben haben, dachte Michael, wenn so viele Leute gekommen sind. Ohne großes Interesse las er sich die Namen durch. Vielleicht konnte er den Zeitpunkt, an dem er die behagliche Bibliothek verlassen musste, ja noch etwas hinauszögern.
Ratsmitglied Martin Shaw. James Shaw.
James stand neben seinem Vater. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden Vater und Sohn waren. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Marty Shaws Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor, und Michael überlegte, ob er, als Shaw ums Leben kam, vielleicht Fotos von ihm gesehen hatte. Da blitzte in seinem Kopf das Bild des Mannes in Uniform auf. In der Uniform eines Lotsen. Natürlich war es nicht Marty. Es war Martys Sohn.
    Und dann packte ihn die alte Paranoia wieder, und er stellte sich vor, dass Keith Mantel und James Bennett zusammenarbeiteten, in einem Netz der Verschwörung, das Jeanies Selbstmord, seinen eigenen erzwungenen Ruhestand und zwei Morde umspannte.

Kapitel siebenunddreißig
    Der Psychiater war ein aufgeblasener Wichtigtuer. Kaum hatte sie sein Büro in dem großen neuen Krankenhaus betreten, da wusste Vera, dass sie hier ihre Zeit verschwenden würde. Er wirkte zu jungenhaft für einen Facharzt, mit den dunklen Haaren und dem gestutzten schwarzen Bart, der aussah wie aufgemalt, ohne die kleinste Spur von Grau. Sie fragte sich, ob er wohl gefärbt war. Der Arzt sah von seinem Schreibtisch auf.
    «Inspector Stanhope.» Er war ein Mann, der Dienstgrade schätzte. Bestimmt rief er die Schwestern «Hilfsschwester» oder «O P-Schwester », nur um sie auf ihre Ränge zu verweisen. «Meine Sekretärin sagte, es sei dringend.»
    «Ich leite eine Untersuchung zu dem Mordfall Abigail Mantel.»
    «Und?»
    «Einer von den Polizisten, die mit den Ermittlungen befasst waren, war Ihr Patient.»
    Er sagte nichts.
    «Daniel Greenwood», fuhr sie fort. «Ist er noch bei Ihnen in Behandlung?»
    «Aber, Inspector, Sie wissen doch, dass ich nicht über meine Patienten reden darf.»
    Doch sein Interesse war geweckt, das merkte sie. Mit der Erwähnung eines berühmten Mordfalls hatte sie ihn geködert, es war das Gleiche wie bei den Leuten, die nach den Storys in den Boulevardblättern gierten und dann behaupteten, sie fänden solche Sensationsberichte widerlich. Mord besaß seinen ganz eigenen Reiz.
    «Selbstverständlich nicht.» Sie machte es sich in dem Ledersessel bequem. Zumindest sollte sie die Gelegenheit nutzen, ihre Füße ein wenig auszuruhen. «Ich suche eherallgemeinen Rat. Ich würde gern von Ihrer Fachkenntnis profitieren.»
    Er lächelte, und seine schmalen Lippen entblößten die Zähne. Auf einem der Backenzähne saß eine Goldkrone. Es fiel ihr schwer, nicht dort hinzustarren. «Wenn ich der Polizei helfen kann, ohne meinem beruflichen Ansehen zu schaden, Inspector   … Aber gern.»
    «Mich interessieren   …», sie hielt inne und suchte nach den richtigen Worten,

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