Opferschuld
bringt. Ich wusste, dass er mir nicht gefallen würde, wie nett und anständig er auch sein mochte, aber ich hatte mir vorgenommen, das zu überspielen. Ihn willkommen zu heißen. Ich wollte sie ja nicht verlieren. Ich hatte nicht gedacht, dass sie es geheim halten würde.»
«Sie war minderjährig. Der Junge hätte eine Straftat begangen.»
«Vielleicht war das ja der Grund.»
«Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, mit wem sie sich so traf?»
«Nicht die leiseste. An ihrem fünfzehnten Geburtstag hat sie eine Party gegeben. Da waren auch Jungs. Gut möglich, dass ich noch auf ein paar von den Namen komme. Aber ich war fast den ganzen Abend über dabei, und mir ist keiner aufgefallen, den sie besonders gern hatte.»
«Nick Lineham? Klingelt da was bei Ihnen?»
«Der Sohn vom Lehrer. Ja, der war auch da.»
«Und Christopher Winter?»
«Emma war natürlich da. Sie und Abigail waren die besten Freundinnen. Aber ich kann mich nicht erinnern, den Jungen gesehen zu haben. Abigail hatte sich über ihn lustig gemacht und gesagt, dass er in sie verknallt wäre, aber ich glaube nicht, dass sie ihn eingeladen hätte. War er nicht viel jünger?»
«Nur ein Jahr», sagte Vera.
Er schaute hinaus in den Garten, für einen Moment abgelenkt von einem Schwarm Krähen, der aus einem alten Maulbeerbaum aufflatterte, und schien sie nicht zu hören.
«Lassen Sie uns auf den Abend des Lagerfeuers zurückkommen.» Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn da stehen und mit seiner Vorzeigefreundin an der Seite die Gäste begrüßen. Schon in mittlerem Alter, aber immer noch durchtrainiert und charmant. Der Mann heute kam ihr älter vor. Ihn konnte sie eher leiden. «Haben Sie Christopher Winter an dem Abend gesehen?»
«Ich glaube nicht, dass ich ihn wiedererkannt hätte. Zehn Jahre machen in dem Alter eine Menge aus, und ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, als Abigail noch lebte. Wenn seine Mutter kam, um Emma abzuholen, und er hinten im Auto saß. Einmal, glaube ich, auf der Landspitze. Seine Eltern waren vorgestern Abend hier. Sie hätten ihn doch bestimmt gesehen, wenn er unter den Gästen gewesen wäre.»
«Wahrscheinlich. Waren viele fremde Leute da?»
«Natürlich waren Leute da, die ich nicht kannte. Die Karten wurden im Pub und bei der Post verkauft. Die Männer vom Rettungsboot brachten ihre Freundinnen mit.»
«Haben Sie Caroline Fletcher erkannt?»
«Ja. Das war die Kommissarin, die für die damaligen Ermittlungen verantwortlich war.»
«Haben Sie sie eingeladen?»
«Nein.»
«Warum war sie dann hier?»
Sie konnte sehen, wie er sich eine unverbindliche Antwort zurechtlegte und es dann aufgab, vielleicht zu erschöpft, um sich noch die Mühe zu machen zu lügen. «Um mich zu kontrollieren. Um mich daran zu erinnern, dass wir beide Schwierigkeiten bekommen könnten, wenn ich mit den Behörden rede.» Dann brach es aus ihm heraus: «Weil sie sich einfach nicht fernhalten kann.»
«Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen folgen kann», sagteVera, obwohl es ihr langsam dämmerte. Die Erkenntnis durchströmte sie wie ein Fluss, der ins Meer mündet.
«Schauen Sie. Ich sagte ja schon, dass ich mich mit einer anderen getroffen habe, bevor Jeanie hier einzog, und dass die Dinge verfahren und kompliziert waren.» Er schwieg.
«Weiter.» Sie saß ganz ruhig da und sah ihm ins Gesicht.
Er erwiderte ihren Blick. Wieder erwartete sie, dass er sich weigern würde fortzufahren.
«Die Frau war Caroline.»
«Sie sind also mit Caroline Fletcher ausgegangen, während die den Mord an Ihrer Tochter untersuchte?» Vera platzte fast vor Wut, sie war scharlachrot im Gesicht, und ihr Blick war eiskalt. Sie konnte sich gerade noch beherrschen.
«Wir standen uns nahe, ja.»
«Und es ist ihr nie in den Sinn gekommen offenzulegen, dass sie in die Sache verwickelt war? Sie hätte den ganzen Fall ruinieren können.»
«Wir waren sehr diskret. Wir dachten nicht, dass es jemand herausfinden würde.»
Dan Greenwood hat es erraten, dachte Vera, aber er war zu dämlich und zu loyal, um etwas zu sagen. Kein Wunder, dass Fletcher von Anfang an eine Abneigung gegen Jeanie hatte.
«Was haben Sie ihr versprochen, um eine Verurteilung zu erreichen?», wollte Vera wissen.
«Nichts. Das brauchte ich nicht. Sie wollte es ebenso sehr wie ich.»
Sie war in dich vernarrt, dachte Vera. Was stimmte denn bloß nicht mit all diesen Frauen? Das war eine starke, kluge Frau, und sie hat ihre Karriere für einen Schwachkopf wie dich weggeworfen. Deshalb hat sie
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