Opferschuld
ein Glas vor der Sperrstunde, meinte sie. Sie hat mich hier abgeholt …» Er schaute zu Vera hinüber, aber sie weigerte sich, ihm da herauszuhelfen. «Bis wir da waren, hatten die Pubs schon zu, also sind wir zurück zu mir gefahren.» Er wurde rot. «Es ist nichts passiert. Nicht so was. Wir haben nur was getrunken und miteinander geredet.»
«Was wollte sie denn?»
«Wissen, ob ich was gehört habe, ob du dich mit mir in Verbindung gesetzt hast. Sie konnte nicht verstehen, weshalb niemand Kontakt zu ihr aufgenommen hatte.»
«Und du hast es ihr gesagt. Natürlich.»
«Sie hat mir leidgetan. Ich habe es doch schon erklärt. Sie ist nicht so robust, wie sie immer tut.»
«Dir ist schon klar, dass sie eine Verdächtige in einer Mordermittlung ist? Wie sich herausstellt, wahrscheinlich sogar die Hauptverdächtige.»
«Niemals.» Schon den Gedanken daran wies er entschieden von sich.
«Sie hatte jedenfalls ein Motiv, Abigail Mantel umzubringen und Jeanie Long zu verhaften. Und wir haben nur ihre Aussage, dass sie bei den damaligen Ermittlungen nicht mit Christopher Winter gesprochen hat. Es ist immerhin möglich, dass er sie an dem Nachmittag mit Abigail zusammen gesehen hat und sie ihm weisgemacht hat, dass das nicht wichtig ist. Man sieht ihr an, wie überzeugend sie sein kann. Vor allem einem halbwüchsigen Jungen gegenüber. Vielleicht ist er ja deshalb jetzt in Elvet aufgetaucht. Er wollte die Wahrheit ans Licht bringen.»
«Niemals», sagte Greenwood wieder. Es schien, als würde er sich am liebsten die Ohren zuhalten und ihre Worte abwehren.
«An dem Abend, an dem er ums Leben kam, war siedort», fuhr Vera unnachgiebig fort. «Sie hatte ein Motiv und die Gelegenheit. Und sie ist verschwunden, kurz bevor die Leiche entdeckt wurde. Gegen sie spricht weit mehr als gegen jeden anderen Beteiligten.»
Er hatte auf die gesprungenen, staubigen Bodenfliesen geschaut. Jetzt sah er Vera direkt an. «Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie eine zweifache Mörderin ist?»
«Wahrscheinlich ist sie das nicht», sagte sie. «Aber sie bedeutet Ärger. Wenn sie sich nochmal mit dir in Verbindung setzt, dann sag mir Bescheid.»
Sie saßen eine ganze Weile schweigend da und sahen sich an.
«Was weißt du über James Bennett?», fragte Vera schließlich.
«Er ist Lotse auf dem Humber.»
«Das weiß ich, Mann. Das erzählt einem hier jeder.»
«Ihn kannst du nicht für verdächtig halten. Er hat gar nicht hier gelebt, als Abigail Mantel umgebracht wurde.»
«Woher weißt du das?»
«Er ist erst ins Dorf gezogen, als er Emma geheiratet hat und sie das Haus da drüben gekauft haben.»
«Wann war das?»
«Noch nicht lange her. Zwei Jahre, wenn’s hochkommt.»
«Ihr seid miteinander befreundet, stimmt’s?»
«Schon irgendwie.» Der Gedanke schien ihm unangenehm zu sein. «Wir spielen beide Cricket für das Dorfteam. Trinken nach dem Spiel ein paar Pints zusammen.»
«Dann wird er dir ja was über seine Herkunft erzählt haben, über seine Familie. Du weißt bestimmt, wo er aufgewachsen ist.»
«Eigentlich nicht», sagte Greenwood. «Meistens reden wir darüber, wie hundsmiserabel die Schlagmänner waren oder wo wir einen vernünftigen Werfer herkriegen.»
«Jetzt mach mal halblang.»
«Er spricht gern über seine Arbeit. Den Lotsendienst.»
«Sicheres Gelände», merkte sie an. «Da kann er nicht unangenehm überrascht werden.»
«Was willst du damit sagen?»
«Mantel zufolge ist er nicht der, als der er sich ausgibt.»
«Woher will der das wissen?»
«Offenbar hat er ihn wiedererkannt.»
«Und du glaubst Mantel?»
«Ja», sagte Vera, «ich denke schon.»
Sie stand auf. Sie hatte sich mit Ashworth gegenüber in dem Bäckereicafé verabredet. Das würde fürs Erste als Büro ausreichen. Besser als das Revier in der Stadt, das sich als feindliches Territorium entpuppt hatte. Sie nahm zwar an, dass sie irgendwann noch einmal einen Auftritt dort hinlegen musste, ihr Gesicht in der Tür zeigen und lächeln, um zu signalisieren, dass sie alle an einem Strang zogen, aber zur Zeit passte es ihr noch ganz gut in den Kram, ihre Stellung im Unklaren zu lassen und Abstand zu wahren. Es war besser, wenn niemand wusste, wo sie war und was sie vorhatte. Offenbar weckte Caroline Fletcher noch immer gewisse Loyalitäten in ihren ehemaligen Kollegen. Vera sah auf Greenwood hinunter. Er saß vornübergebeugt, die Schultern angespannt.
«Kommst du zurecht?» Sie versuchte, nicht übertrieben besorgt zu klingen.
Er
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