Opferschuld
schaute hoch und zwang sich zu lächeln. «Aber klar. Es wird langsam Zeit, dass ich hier weiterkomme. Ende der Woche findet ein Kunsthandwerkermarkt statt. Ich muss noch einiges vorbereiten.»
«Du solltest dir eine vernünftige Frau suchen.»
Er machte eine Pause, bevor er etwas sagte, und sie dachte, es würde etwas Vertrauliches kommen, aber offensichtlichüberlegte er es sich anders. «Wie auch immer, das ist leichter gesagt als getan. In der Hinsicht hatte ich noch nie viel Glück.»
Er sah ihr von unten direkt ins Gesicht. Diese dunklen Augen, die einen plötzlich an Herz-Schmerz-Romane denken ließen.
Ich wäre die richtige Frau für dich. In guten wie in schlechten Zeiten. Nur dass kein Mann mich jemals haben wollte. Die Worte schossen ihr durch den Kopf, und sie erschrak über ihre Bitterkeit. Sie wandte sich ab. Draußen war es fast schon dunkel, und die Straße lag ruhig da. Es roch nach brennendem Holz. Nicht von einem Lagerfeuer – in den großen Häusern auf der anderen Seite des Platzes gab es bestimmt Holzöfen. Das hier war ein wohlhabendes Dorf. Nicht so protzig wie die Siedlung, in der Fletcher wohnte, aber die Leute hier hatten Geld. Da kam Ashworth herangefahren. Während er parkte, beobachtete sie eine Gruppe Mädchen in Schuluniformen, die mit Coladosen und Schokoriegeln aus der Post kamen. Sie fragte sich, was sie an einem Ort wie diesem wohl unternahmen, wenn sie sich amüsieren wollten. Jugendliche machten gern mal etwas Unvernünftiges, aber bis zu den Morden hätte man Elvet für einen der sichersten Orte auf Erden gehalten. Was konnte man hier schon unternehmen? Gemeinsam rumhängen und sich die Pornoseiten im Internet anschauen? Zu viel trinken? Mit den falschen Kerlen schlafen? Ein Mädchen wie Abigail Mantel musste sich hier zu Tode gelangweilt haben. Was für Spielchen mochte sie wohl gespielt haben, um ihr Leben ein bisschen aufregender zu machen …
«Wir schließen in fünf Minuten», sagte die Frau in der Bäckerei, kaum dass sie eingetreten waren.
«Aber, Kleine, und was ist mit der wunderbaren Gastfreundschaft in Yorkshire, von der man immer so viel hört?Eine Kanne Tee und ein bisschen Gebäck, und schon sind wir zufrieden. Sie können uns ganz uns selbst überlassen und hier drinnen alles fertig machen.»
Die Frau zuckte die Achseln, bedeutete ihnen aber mit einem Nicken, durch den Laden in das kleine Nebenzimmer zu treten, bevor sie das Schild an der Tür auf
Geschlossen
drehte. Mittlerweile wusste sie vermutlich, wer sie waren. Davon konnte sie ihren Freundinnen erzählen. Wieder dachte Vera, dass Elvet nun mal so ein Ort war. Man musste seine Abenteuer auftreiben, wo man nur konnte.
Die Stühle waren alle schon hochgestellt worden. Vera suchte sich den Platz aus, der am weitesten vom Laden weg war, und machte es sich gemütlich. «Und?»
Ashworth setzte sich ihr gegenüber. «Lineham ist wirklich ein netter Kerl …»
Vera seufzte theatralisch auf. Ashworth dachte von jedem das Beste. Gegen ihn wirkten noch die eifrigsten Sozialarbeiter herzlos.
«Ist er wirklich! Er hatte selbst schon überlegt, zu uns zu kommen und mit uns zu reden. Dann dachte er, dass es vielleicht nicht wichtig wäre und dass wir denken könnten, er sei ein sensationslüsterner Idiot, der an einer Mordermittlung beteiligt werden will.» Ashworth brach ab, als die Frau aus dem Laden mit einem schweren Tablett hereinkam, und fuhr fort, sobald sie wieder draußen war. «Er war älter als sie, stand schon kurz vor dem Abschluss, als sie ums Leben kam.»
«Hat er mit ihr geschlafen?»
«Nur einmal, sagt er. An einem Nachmittag. Kurz nach der Party zu ihrem fünfzehnten Geburtstag. Sie haben beide die Schule geschwänzt, ein paar Flaschen Wein getrunken, die noch von der Party übrig waren, und sind dann im Bett gelandet.»
«Wo?»
«Bei ihr zu Hause.»
«Ich dachte, da gab es so eine Art Haushälterin, die ein Auge auf sie haben sollte.»
«Offenbar gab es jede Menge Haushälterinnen. Keine ist lange geblieben. Lineham zufolge war es ihr freier Tag.»
«Sie haben es also im Voraus geplant?»
«Zumindest Abigail, ja. Es war alles ihre Idee.»
«Sagt er.»
«Er hat sich glaubwürdig angehört», sagte Ashworth. «Sein Vater war Lehrer an der Schule, und er kam nie ungestraft mit irgendwas davon. So wie er es erzählt hat, war es wohl eine Art Mutprobe. Sie hat ihn so lange getriezt, bis er eine Unterrichtsstunde sausenließ und mit ihr nach Hause ging. Danach hat er sich
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