Opferspiel: Thriller (German Edition)
hörte auf, sie zu bewegen, und wiegte sich stattdessen leicht vor und zurück. Es gab keinen Platz für fliegende Teppiche oder Handpuppen an dem Ort, wo sie war. Ryan klopfte rhythmisch mit dem Fuß gegen das Schreibtischbein.
»Ryan«, mahnte Angie erneut.
Er legte eine Hand auf sein Bein, um es stillzuhalten. Sein Leben war aus den Fugen geraten, seit er nicht mehr der Reporter war, sondern die Story. Bisher wussten jedoch nur ein paar wenige Menschen, denen er blind vertraute, von dem Albtraum. Es war ihm gelungen, Katies Entführung aus der Presse herauszuhalten, weil er, statt über das Verbrechen zu berichten, einen guten Freund bei der Polizei angerufen hatte.
Auch der leitende Arzt beim Notdienst war ein alter Bekannter und hatte ihm versichert, dass das Team des Rettungswagens, der Katie gleich nach ihrer Rückkehr zur Untersuchung in die Abteilung für Opfer sexueller Gewalt des Crumlin-Kinderkrankenhauses gebracht hatte, über den Vorfall schweigen würde.
Den Nachbarn hatten sie erzählt, der Krankenwagen sei gekommen, weil Katie einen Asthmaanfall erlitten habe.
Bei der Zeitung ahnte niemand, was passiert war. Sie hät ten nur Mittel und Wege gesucht und auch gefunden, eine Story daraus zu machen, ihren »Exklusivbericht«. Ryan wusste nur zu gut, was daraus geworden wäre – »Kind des Starreporters in den Klauen der Unterwelt«. Im Zwischentitel wäre die Rede von dem schlimmsten Angriff auf die Pressefreiheit seit der Ermordung seiner Kollegin Veronica Guerin gewesen. Hätte er selbst über das Kind von anderen berichtet, hätte er Katies Alter ein bisschen nach oben geschraubt, um die Voyeure anzulocken und aufzugeilen. Es war nicht so, dass ihm die Menschen in seinen Geschichten egal waren, aber mit menschlichem Unglück wurden nun einmal Zeitungen verkauft. Wenn er bei jeder Tragödie, über die er berichtete, mitleiden würde, würde er morgens nicht mehr aus dem Bett kommen.
Er stieß das Ding mit den schwingenden Metallkugeln auf dem Schreibtisch des Doktors an und beobachtete die davon ausgelöste Kettenreaktion. Angie schoss einen wütenden Blick auf ihn ab. Auch nichts Neues. In letzter Zeit bekam er von ihr fast nur noch böse Blicke.
Katie stand auf und ging zur Tür, hatte offensichtlich genug. Sie war seelisch derart gebrochen, dass sie Ryan an einen geprügelten Hund erinnerte und er am liebsten auf die Wand eingeschlagen hätte. Stattdessen schluckte er die aufsteigende Galle hinunter, als Angie und der Arzt seine Tochter dazu zu bringen versuchten, sich wieder zu setzen. Was hatte man ihr angetan? Warum wollte sie es ihm nicht sagen, damit er ihr helfen konnte, wieder gesund zu werden?
»Ich würde gern wissen, wie lange Katie noch so bleiben wird«, sagte er.
»Herrgott noch mal, doch nicht vor ihr!«, rief Angie außer sich.
»Unmöglich zu sagen«, antwortete Dr. Forte. Er nahm das kleine Mädchen an der Hand und öffnete die Tür zu einem angrenzenden Spielzimmer, in dem Katie durch ein breites Einwegfenster gesehen werden konnte.
Als er zurückkam, nahm er den Faden wieder auf, während sie das Kind durch die Scheibe beobachteten. »Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, wissen wir nicht genau, womit wir es zu tun haben. Es kann gut sein, dass Katie ein Trauma erlitten hat, das selbst die stabilste Erwachsenenpsyche beschädigt hätte. Sie müssen Geduld haben und sich darauf einstellen, dass sie sich vielleicht nie genug erholen wird, um wieder zu sprechen.«
Angie stöhnte. Ryan stützte den Kopf in die Hände.
»Sie spricht bisher nicht auf die Behandlung an, weil sie das Geschehene verdrängt hat«, fuhr der Arzt fort. »Das ist ein klassischer Bewältigungsmechanismus – der überlebenden Person fällt es leichter zu leugnen, dass ihr etwas zugestoßen ist, als sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Unglücklicherweise ist durch diese Beeinträchtigung ihres kognitiven Bewusstseins auch ihre Kommunikationsfähigkeit paralysiert.«
Dr. Forte machte eine Pause und verschränkte die Finger vor der Brust. »Um es anders auszudrücken: Falls Katies Fall je vor Gericht kommen und man mich auffordern sollte, die Folgen für das Opfer zu beschreiben, werde ich aussagen, dass ihre psychische Schädigung die verheerendste ist, die ich in den dreiundzwanzig Jahren, die ich nun schon Therapiearbeit mit jugendlichen Verbrechensopfern leiste, erlebt habe.«
Ryan verzog schmerzhaft das Gesicht. Forte hatte Kinder therapiert, die Vergewaltigung, versuchten Mord und
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