Opferspiel: Thriller (German Edition)
Fünfzigeuroscheine. »Sie hätte gewollt, dass Sie die bekommen.«
Die Tür wurde kurz geschlossen und dann ganz aufgemacht. Jo trat ein und ging an der Frau vorbei, ein paar Schritte durch den Flur und nach links ins Wohnzimmer. Foxys Faustregel im Umgang mit widerstrebenden Zeugen lautete: Je weiter man in ihre Wohnung hineingelangte, desto mehr Zeit hatte man, sie von der eigenen Sichtweise zu überzeugen. Die übliche Vorgehensweise verlangte einen Besuch wie diesen, um sich über die Gewohnheiten des Opfers zu informieren, seinen Umgang, seine Fahrzeuge und seine Unternehmungen vor dem Tod; außerdem Einzelheiten über Kleidung, Schmuck, Gegenstände des persönlichen Gebrauchs, letzte Aufenthaltsorte und den Zeitpunkt der letzten Mahlzeit in Erfahrung zu bringen. Idealerweise sah man sich auch das Schlafzimmer des Opfers an und nahm Fotos, Unterlagen, Tagebücher etc. zur eventuellen Verwendung bei den Ermittlungen an sich.
Allerdings war Jo nicht zuständig für die Ermittlungen, jedenfalls noch nicht.
Das Wohnzimmer war klein und mit billigen Möbeln bestückt, aber tadellos sauber. Sehr trockene Luft, wahrscheinlich Gasheizung, was den widerlich süßen Geruch eines Raumsprays noch durchdringender machte. Zwei le bensgroße King-Charles-Spaniels aus Porzellan hockten zu beiden Seiten eines gekachelten Kamins. Plastikblumen prangten vorm Fenster – Hortensien.
Mrs. Nulty trug eine glänzende dunkelblaue Kittelschürze über ihrer Kleidung und trendige gefütterte Ugg-Boots, wie sie bei jungen Mädchen beliebt waren. Sie schlurfte damit bei jedem Schritt über den Boden.
»Machen Sie’s kurz«, sagte sie.
Joy musterte ihr Gesicht und dachte, dass ihre wider borstige, »Ich kenne meine Rechte« besagende Haltung nur von einschlägigen Erfahrungen mit der Polizei herrühren konnte, besonders nach der Nachricht, die sie heute erhalten hatte. Die Augen der Frau waren weder gerötet noch geschwollen, und ihre Stimme oder Hände zitterten nicht. Weil es dich nicht überrascht hat, dass sie umgebracht wurde . Du hast sie schon vor Jahren verloren.
Sie ließ sich auf einem geblümten Sofa nieder und knöpfte ihre Jacke auf. Foxy empfahl nämlich auch, es sich bequem zu machen. Das half den Leuten, sich zu öffnen. »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.
»Wie gesagt, es ist schon spät.«
Jos Blick schweifte über die Porzellanfigürchen auf dem Fernseher, tanzende Milchmädchen und die Messingreiseuhr über dem Kamin, die auf einem gehäkelten Deckchen stand. Wenn Rita hier gewohnt hätte, hätte sie das alles längst verpfändet, um ihre Sucht zu finanzieren.
»Setzen Sie sich doch bitte, Mrs. Nulty. Es wird nicht lange dauern.«
»Sie haben gesagt, wenn ich mich dazu in der Lage fühle. Fühle ich mich aber nicht. Kommen Sie morgen wieder.«
Doch morgen würde ein Ermittlerteam für Ritas Fall bestimmt worden sein, und falls Jo nicht dazugehörte, hatte sie hier nichts verloren. Sie konnte sich auch so schon eine Disziplinarstrafe für diesen Zeugenbesuch auf eigene Faust einhandeln. Also kam sie direkt zur Sache. »Ich müsste wissen, ob Ihre Tochter in letzter Zeit gläubig geworden ist.«
Mrs. Nulty schüttelte den Kopf.
»Hat sie vielleicht plötzlich angefangen, zur Kirche zu gehen oder an Bibelkursen teilzunehmen?«, beharrte Jo.
Nichts.
»Mrs. Nulty, es tut mir leid, wenn ich Sie bedränge, aber ich glaube, dass Ritas Mörder ein religiöser Fanatiker sein könnte, und es ist wirklich wichtig, dass Sie gut über meine Fragen nachdenken. Können Sie sich erinnern, dass Rita einen ihrer Freier als ›frommen Heini‹ oder ›christlichen Spinner‹ oder so etwas beschrieben hat?«
Mrs. Nulty tastete Halt suchend nach einem Sessel, wie um nicht zu fallen.
Jo hielt die Luft an. Sie konnte es nicht fassen, dass sie derartig unsensibel vorgeprescht war. Offenbar hatte Mrs. Nulty nichts von der Tätigkeit ihrer Tochter gewusst. Dass Polizisten mit den Berufsjahren gefühllos wurden, hatte sie oft genug beobachtet, und es schockierte sie jedes Mal wieder. Umso entschlossener war sie, es nicht so weit kom men zu lassen; das Rechtssystem war schließlich schon unpersönlich genug. Unzählige Male hatte sie es erlebt, wie Angehörige von Gewaltopfern im Gerichtssaal aus Schmerz und Empörung zu protestieren anfingen und dann wegen Missachtung des Gerichts abgeführt, in eine Zelle gesperrt und dort festgehalten wurden, bis sie sich für ihr ungebührliches Verhalten entschuldigten. Meistens machten sie
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