Opferzahl: Kriminalroman
und nickte kurz. Sie lächelte ebenso kurz und sagte:
»Dann sind wir ja alle versammelt. Also, kurze Lagebesprechung.«
Kurz?, dachten alle. In your dreams.
Kerstin Holm war sich dieses gemeinsamen Gedankengangs natürlich bewusst, als sie fortfuhr:
»Wir sind trotz allem heute ein Stück vorangekommen. Und zwar von unterschiedlichen Flanken her. Ich muss leider zugeben, dass es auf meiner Flanke am schlechtesten läuft. Anderseits bin ich die Chefin, es spielt also keine Rolle. Aber es ist wohl auch die Schwerste gewesen. Was wir von meiner Flanke aus vorweisen können, ist ganz einfach. Die Passagiere im Wagen Carl Jonas verteilten sich, wie wir wissen, auf die beiden Endpunkte des fünfundvierzig Meter langen Wagens. Darüber haben wir uns einige Gedanken gemacht. Warum saßen unsere elf Opfer hinten so dicht beieinander? Warum saßen die Überlebenden beinahe genauso dicht beieinander im vorderen Teil? Warum hatte sich niemand in diesem letzten Nachtzug nach Hagsätra in den mittleren Teil des Wagens gesetzt? Die Antwort scheint zu lauten: Sie wurden abgeschreckt. Allem Anschein nach stand dort eine Frau und lärmte und gestikulierte und fuchtelte mit einer Harke oder einem Handkultivator herum. Sie schreckte die Passagiere ab, sie gingen nach vorn oder nach hinten.«
»Wir sind nicht ganz sicher, was die Symmetrie angeht«, unterbrach Viggo Norlander. »Aber darauf kommen wir vielleicht zurück.«
»An und für sich gibt es wenige Chefs, die es lieben, bei ihrem kritischen Durchgang unterbrochen zu werden«, sagte Kerstin Holm. »Aber für dies eine Mal machen wir eine Ausnahme. Sprich weiter, Viggo.«
»Ich finde aber nicht, dass Viggo weitermachen sollte«, sagte Arto Söderstedt. »Das gehört in einen bestimmten Zusammenhang.«
»Doch«, sagte Kerstin Holm. »Mach weiter, Viggo.«
Norlander blinzelte ein Mal und hatte das Gefühl, die Konturen eines sehr interessanten (und vor allem unterhaltsamen) Machtkampfs zu erahnen. Er fuhr fort:
»Wir sind auf niemanden gestoßen, der abgeschreckt wurde und deshalb nach hinten lief. Dagegen scheint eine ganze Menge abgeschreckt worden und nach vorn gelaufen zu sein.«
»Kann das nicht daran liegen, dass die, die nach hinten liefen, ganz einfach tot sind?«, fragte Gunnar Nyberg. »In die Luft gesprengt?«
Die Luft, wenn sie denn vorhanden gewesen war, entwich aus Viggo Norlander. Er verstummte, und Kerstin Holm fuhr fort:
»Diese Frau wird von vier voneinander unabhängigen Zeugen als >verrückt< beschrieben. Und diese vier haben es ihr zu verdanken, dass sie noch leben. Eine verrückte Frau hat ihnen das Leben gerettet.«
»Vier?«, fragte Lena Lindberg.
»Ja«, sagte Kerstin Holm. »Eine im Wagen Carl Jonas - die achtzehnjährige Nadja Smith - und drei im Wagen davor. Die Zeugen im Wagen davor sind aber nicht so leicht zu fassen, weil sie von der zuerst eingetroffenen Streife nur sporadisch vernommen wurden.«
»Sporadisch?«, wiederholte Söderstedt.
»Sie wurden ein wenig zu leichtfertig laufen gelassen«, sagte Holm. »Eine Menge Angaben, die da gemacht wurden, sind nicht ordnungsgemäß kontrolliert worden. Man hat sich auf den letzten Wagen konzentriert. Den Wagen Carl Jonas.«
»Aber drei Personen sagen eindeutig aus, dass die verrückte Frau sie abgeschreckt hat«, sagte Gunnar Nyberg. »Das reicht doch wohl.«
»Ja«, sagte Arto Söderstedt. »Das reicht sogar locker.«
Die A-Gruppe betrachtete ihn geschlossen.
»Wozu reicht das, Arto?«, fragte Kerstin Holm.
»Ich weiß nicht recht«, sagte Arto Söderstedt. »Aber es bringt uns ein ganzes Stück weiter. Gebt mir noch ein paar Minuten zum Überlegen.«
»Selbstverständlich«, sagte Holm und ertappte sich dabei, dass sie kicherte.
»Was ist denn mit der Verrückten passiert?«, fragte Lena Lindberg.
»Danke«, sagte Holm aufrichtig und ergriff wieder das Wort: »Das Problem mit dieser verrückten Frau ist, dass sie nirgendwo zu finden ist. Sie befand sich so dicht am Ort der Explosion, dass sie tot sein müsste. Aber es sieht nicht danach aus. Stattdessen benutzte sie ihre komische Harke oder ihren Handkultivator, um die Tür aufzustemmen und zu verduften. Das verlangte eine solche Kraftanstrengung, dass man davon ausgehen kann, dass sie die Explosion überstanden hat, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Obwohl sie eigentlich erhebliche Verletzungen davongetragen haben müsste - worauf neu gefundene Blutspuren im Wagen auch hindeuten -, aber sie hat sich
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