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Opferzeit: Thriller (German Edition)

Opferzeit: Thriller (German Edition)

Titel: Opferzeit: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Cleave
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über das reden, was für den Prozess wichtig ist? Der Rest wird sich schon von selbst regeln.«
    Sie antwortet nicht.
    »Bitte«, sage ich.
    »Okay, Joe, wenn Sie es so wollen.«
    Meine Psychiaterin – ich habe beschlossen, sie Ali zu nennen, denn das ist am kürzesten – hat sich für das Wochenende etwas legerer gekleidet. Sie trägt eine enge Jeans, die mich auf böse Gedanken bringt. Und eine Bluse, die mich ebenfalls auf böse Gedanken bringt. Vielleicht bin ich einfach ein Typ mit bösen Gedanken.
    »Wann hat Ihre Tante aufgehört, Sie zu missbrauchen?«
    »Sind wir wieder bei diesem Thema, ja?«
    »Beantworten Sie einfach meine Frage, Joe.«
    »Das hab ich Ihnen bereits gesagt«, sage ich. »Nach knapp zwei Jahren.«
    »Ich meine, wann hat sie aufgehört? Zu welcher Jahreszeit? Können Sie sich noch erinnern?«
    Ich weiß nicht, warum das wichtig sein soll. Ich schließe die Augen und stelle es mir vor. Jetzt bin ich ein anderer Typ mit bösen Gedanken. Die Schule war aus, nicht nur für das Schuljahr, sondern für immer. Vor mir lag eine ungewisse Zukunft, ein Leben in Arbeitslosigkeit schien äußerst wahrscheinlich. Ich hatte keine Ahnung, was ich werden wollte, und um ehrlich zu sein, ich weiß es immer noch nicht. Vielleicht eine Tierhandlung eröffnen. Es war eine schreckliche Zeit. In den vergangenen sechs Monaten hatten die Beratungs lehrer an der Schule uns geholfen, die richtige Berufswahl zu treffen, aber eine Ausbildung zum Eins-a-Serienmörder war nicht im Angebot. Mensch, damals wusste ich nicht mal, dass es das war, was ich werden wollte. Nicht wirklich.
    »Das war kurz bevor ich von der Schule abgegangen bin«, sage ich. »Etwa einen Monat davor – ungefähr im November, glaub ich.«
    »Waren Sie da schon achtzehn?«
    »Siebzehn. Ich habe im Dezember Geburtstag. Am zehn ten«, sage ich. Meinen zweiunddreißigsten Geburtstag musste ich im Knast verbringen, aber an meinem dreiunddreißigsten werde ich woanders sein. »Wissen Sie, was am zehnten Dezember ist?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Der Tag der Menschenrechte«, sage ich und lächle. »Ziemlich ironisch bei einem Typen, den die Bevölkerung umbringen will.«
    »Es gibt Leute, die das aus anderen Gründen ironisch fänden«, sagt sie.
    »Aus welchen zum Beispiel?«, frage ich.
    »Dass ein Serienmörder, der am Tag der Menschenrechte geboren wurde, glaubt, außer ihm habe sonst keiner irgendwelche Rechte.«
    »So ist es nicht«, sage ich. »Ich kann mich nicht …«
    »Erinnern«, beendet sie den Satz für mich. »Sie können sich nicht erinnern, was Sie in diesen Momenten gedacht haben. Ja, ich hab’s kapiert. Wie auch immer, bei dieser ganzen Diskussion geht es ausschließlich um die Menschenrechte. Die Befürworter der Todesstrafe würden sagen, dass sie für ihre Rechte kämpfen, für das Recht der Opfer, dass die Mörder dasselbe Schicksal erleiden sollen wie sie. Haben Sie das Ganze mal von diesem Standpunkt aus betrachtet?«
    Ich bin mir nicht sicher, und während ich höre, was sie sagt, bin ich mir auch nicht sicher, ob ich überhaupt darüber nachdenken will. Warum sollte mich das interessieren? »Nein.«
    »Ich finde, das sollten Sie aber. Ich finde, das könnte Ihnen weiterhelfen.«
    »Okay«, sage ich.
    »Erzählen Sie mir davon, wie Sie zum ersten Mal einen Menschen umgebracht haben«, sagt sie.
    Im ersten Moment glaube ich, ich hätte sie falsch verstanden. Mit der Frage habe ich nicht gerechnet, darum brauche ich ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sie nicht gesagt hat: Erzählen Sie mir davon, wie sie zum ersten Mal jemanden geküsst haben . Das war meine Tante. Ich hoffe, dass es durch die Pause wirkt, als würde ich tatsächlich versuchen, mich zu erinnern. Denn das kann ich. Aber das ist nicht, was ich ihr erzähle. »Ich … ich kann mich nicht erinnern.«
    »Das sagten Sie bereits. Aber wie wär’s, wenn Sie mir davon erzählen, wie es war, als Sie das erste Mal den Verdacht hatten, Sie könnten jemandem etwas angetan haben.«
    »Na ja, das war, als die Polizei auftauchte und mich verhaftet hat.«
    Sie nickt langsam und schaut auf ihre Hände hinab. Notiert sich etwas. »Sie wollen mir also sagen, dass Sie nie blutverschmiert wieder zu sich kamen? Wissen Sie, was unser Problem ist, Joe?«, sagt sie, und es gefällt mir, dass sie glaubt, wir hätten ein Problem und nicht nur ich. Dadurch habe ich das Gefühl, Teil eines Teams zu sein. »Dass Sie sich an nichts erinnern können. Warum trugen Sie eine Pistole bei

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