Opferzeit: Thriller (German Edition)
das ist alles.«
»Wirst du dich jetzt zusammenreißen und das hier durchziehen?«, fragt sie, und sie klingt wie meine Mutter, wenn mir morgens vor der Schule schlecht war. Damals hat mich meine Mutter immer gefragt, ob ich ein Mädchen, ein Junge oder ein Mann sei.
Ich erlange das Gleichgewicht wieder und steige in den Transporter, womit ihre Frage beantwortet wäre. Meine Handschellen werden mit einer Kette so an der Öse befestigt, dass ich vornübergebeugt dasitzen muss, was okay ist, denn bei meinen Magenschmerzen würde ich sowieso in dieser Haltung dasitzen. Hier hinten gibt es keine Fenster. Zwischen dem Heck und dem vorderen Teil des Wagens befindet sich Maschendraht, sodass ich nach draußen schauen kann und den Fahrer mit einer Stricknadel stechen könnte, wenn ich eine hätte, mehr aber auch nicht. Der Fahrer ist bewaffnet, und er kommt mir bekannt vor, allerdings weiß ich nicht, woher. Kent setzt sich neben ihn. Die beiden anderen schwer bewaffneten Beamten klettern zu mir ins Heck. Auf dem Boden liegt eine Schaufel. Melissa muss es mit vier Personen aufnehmen, aber immerhin haben sie die Ausrüstung, um sie zu vergraben, selbst mitgebracht.
Der Transporter setzt sich Bewegung. So weit war ich nicht mehr vom Knast entfernt, seit ich auf unschuldig plädiert habe und das Verfahren gegen mich eingeleitet wurde. Das ist die Aussicht, die sich meiner Mutter und meinem Anwalt jedes Mal bietet, wenn sie mich besuchen.
»Wo lang?«, fragt Kent.
»Nach rechts«, sage ich. »Können Sie das Fenster öffnen?«
»Nein.«
Wir müssen warten, bis sich im Verkehr eine Lücke auftut, dann überqueren wir die anderen Spuren und fahren Richtung Stadt.
»Bitte. Es ist heiß hier hinten.«
»Es ist nicht heiß«, sagt Kent.
»Er sieht nicht besonders gut aus«, sagt Officer Nase; so nenne ich den Typen, der mir gegenübersitzt und dessen Nase aussieht, als wäre sie mehrmals gebrochen worden. Der Typ neben ihm trägt eine Brille, und ich nenne ihn Officer Sackgesicht.
»Wie weit fahren wir?«, fragt Kent, während sie das Fenster halb runterkurbelt.
»Weiß nicht«, sage ich. »Ich kann kaum aus dem Fenster schauen.«
»Wie wär’s, wenn du mir einfach eine Adresse nennst?«
»Es gibt keine Adresse, sage ich. »Darum machen wir das hier ja. Wir suchen nach einer Weide. Ich kann Ihnen nicht erklären, wo sie ist, aber ich weiß, wie wir hinkommen.«
»Na klasse«, sagt der Fahrer.
»Finde ich auch«, sage ich.
Wir nähern uns der Stadt und kommen an dem großen Ortsschild vorbei, das jemand mit einem nicht entzifferbaren Graffito besprüht hat. Wir fahren weiter. Zur Linken noch mehr langweiliges Zeug. Zur Rechten das gleiche langweilige Zeug. Ich verstehe nicht, wie die Leute das aushalten. Warum sich nicht mehr Leute die Kugel geben?
»Nach links, hinter dem Flughafen entlang«, sage ich.
Der Wagen wird langsamer und biegt ab. Über uns kann ich eine Maschine im Landeanflug sehen. Ich bin noch nie geflogen. War noch nie im Ausland, nicht mal auf der Nordinsel, ja, eigentlich habe ich Christchurch nie verlassen. Ich frage mich, wo Melissa mit mir hinwill. Australien? Europa? Mexiko? Ich kann’s nicht abwarten. Es muss echt toll sein, auf die Erde hinabzublicken, wo die Menschen klein wie Ameisen herumwuseln. So sehe ich sie jetzt schon, jedenfalls die meiste Zeit. Ich frage mich, wie sie mir aus einigen Kilometern Höhe erscheinen werden.
»Jetzt eine Weile geradeaus«, sage ich.
Und so fahren wir dahin. Vorbei an offenen Feldern, an landenden Flugzeugen und an Startbahnen, die von Lichtern und noch mehr Feldern gesäumt werden. Währenddessen fällt mir alles wieder ein. Die Nacht mit Calhoun. Dem Detective, der Daniela Walker getötet hat. Ich war es, der das herausgefunden hat. Ich wäre ein guter Cop geworden. Er hatte den Tatort so hergerichtet, dass man mir die Tat anhängen würde – dem Schlächter von Christchurch –, und ich war nicht erfreut darüber. Gleichzeitig wurde ich von Melissa erpresst. Also habe ich Calhoun gefesselt, Melissa hat ihn dann erstochen und ich habe das Ganze ohne ihr Wissen gefilmt. Mein Plan ging restlos auf. Seitdem ziehen Melissa und ich an einem Strang. Keine Ahnung, wie das möglich ist – sie hat einen meiner Hoden mit einer Zange zu Brei zerquetscht, und trotzdem liebe ich sie. Ihre Schwester wurde von einem Cop ermordet und sie selbst von einem bösen Mann vergewaltigt, und trotzdem liebt sie mich. Es ist nicht zu leugnen, dass wir auf einer Wellenlänge
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