Opferzeit: Thriller (German Edition)
nachdachte. Über Hebelwirkung und Krafteinsatz und darüber, wie ein Ereignis ein anderes beeinflussen kann. Er fragte sich, wie viel Anstrengung nötig wäre, Calhoun auszugraben und durch Jones zu ersetzen. Er stellte sich vor, wie ihn das glücklich und Jones traurig machen würde. Er stellte sich vor, wie er Calhoun zum Leichenschauhaus fuhr, wo man angemessen mit ihm umgehen würde. Der Tote hatte es verdient, dass sie beide ihn besser behandelten.
Natürlich hat er all das nicht getan. Stattdessen brachten sie die Sache zu Ende und verwischten auf dem Rückweg die Fußspuren. Zurück beim Wagen warfen sie ihre Jacken auf den Rücksitz und putzten mit kaltem Seifenwasser und mit Lappen ihre Wanderstiefel, denn für die Dreharbeiten mussten sie sauber sein. Dann brachen sie auf. Auf der Fahrt zum Sender wechselten sie kein Wort. Jones war damit beschäftigt, sich Notizen in sein Büchlein zu machen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Er bastelte an seinem Skript.
Jetzt fahren sie wieder da raus. Unterwegs müssen sie ein paarmal anhalten, und Jones greift sich an den Kopf und erzählt in die Kamera, dass es ihn zu Calhoun zieht. So als würde er auf einem Empfangsgerät die Frequenz des toten Polizisten einstellen.
Es ist, als würde es mich zu ihm hinziehen, ja, ich kann es körperlich spüren . Schroder hat gesehen, wie er sich den Satz aufgeschrieben hat, und er wird ihn jetzt garantiert benutzen.
Als sie die Weide erreichen, parken sie am Straßenrand, steigen aus und gehen auf Position, und dann heißt es: Licht, Kamera und Action. Der Kameramann filmt, wie sie die Wanderstiefel anziehen, und Jones schaut dabei hinauf in die Kamera und sagt: »Ich glaube, dass Detective Calhoun hier irgendwo ist.«
Die meiste Zeit blickt er düster drein, und Schroder weiß, dass das eine Mischung aus Routine und dem Wissen darum ist, dass ihn die Aktion hier eine hübsche Stange Geld gekostet hat. Was Schroder am meisten bewundert, ist Jones’ Fähigkeit, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Der Kameramann filmt, wie sie sich wärmere Jacken anziehen, bevor er ihrem Beispiel folgt, dann nimmt er die Kamera wieder auf die Schulter, und der Dreh geht weiter. Jones neigt seinen Kopf zur Seite – wieder eine Lassie-Imitation –, dann fängt er an zu nicken, einverstanden mit der Botschaft, die Detective Calhoun ihm schickt.
»Da lang«, sagt er.
Das erste Hindernis ist der Zaun, und Jones klettert mühelos darüber hinweg. Dann führt er sie einen Weg entlang, der aus Matsch, Steinen und Baumwurzeln besteht, die Kamera nimmt alles auf. Man muss Jones zugutehalten, dass er keinen gegabelten Zweig aufhebt und als Wünschelrute benutzt. Der Hellseher läuft weiter. Geht nach links, hält inne, geht nach rechts, marschiert weiter. Sie laufen hundert Meter. Zweihundert. Dann sind sie da, vor ihnen das Grab; die Regisseurin und das Kamerateam haben keine Ahnung, dass Schroder und Jones heute Morgen schon mal hier waren, keine Ahnung von dem Geld, das Jones für die Information gezahlt hat. Für sie passiert das hier gerade wirklich. Von ihrem Besuch heute Morgen und von Joes Besuch gestern sind noch ein paar Fußspuren zu sehen, aber entweder bemerken sie sie nicht, oder sie haben beschlossen, nicht weiter darauf einzugehen. Um das Grab herum haben Schro der und Jones die Spuren allerdings besser verwischt.
»Hier«, sagt Jones. »Ich glaube, dass Detective Calhoun hier vergraben ist«, sagt er, »irgendwo im Radius von fünf Metern. Vielleicht …«, sagt er, dann neigt er den Kopf noch etwas mehr, »ja, ja, ich spüre es jetzt ganz deutlich. Ich kann ihn hören. Er will, dass man ihn findet. Vielleicht hier drüben«, sagt er und stellt sich neben das Grab. »Eine verlorene Seele, die danach schreit, gefunden zu werden. Er ist sehr traurig, aber er ist auch erleichtert«, sagt Jones. »Wir brauchen eine Schaufel. Schnell«, sagt er, und dann dringlicher in Richtung Kamera und zu allen anderen: »Wir müssen ihm helfen.«
»Vielleicht sollten wir die Polizei verständigen«, sagt Schro der, ohne Emotion in den Satz zu legen.
»Die Polizei«, sagt Jones spöttisch. »Wenn wir die einfach so anrufen, wird sie nicht kommen. Sie brauchen einen Grund. Sie brauchen eine Leiche.«
Schroder hat die Schaufel getragen. Nun richtet er sie auf den Boden. »Hier?«, fragt er.
»Ein, zwei Meter nach links«, sagt Jones, und wenn die Aufnahmen erst geschnitten und mit dramatischer Musik unterlegt sind, wird das ein
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