Opferzeit: Thriller (German Edition)
selbst.
Im Sechs-Uhr-morgens-Dämmerlicht hält er seine Hände vors Gesicht, und obwohl sie nur undeutlich zu erkennen sind, kann er immerhin beurteilen, dass sie kein bisschen zittern. Für einen Mann, der letzte Nacht kaum geschlafen hat, befindet er sich in bemerkenswert gutem Zustand. Es war eine Nacht, in der er ständig auf die Uhr geblickt und jede verstreichende Stunde in seinem Kopf addiert hat, wobei die Summe ihm verriet, wie wenig Schlaf er abbekam. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Am Anfang waren es positive Gedanken. Dann, so etwa gegen ein Uhr nachts, meldeten sich die ersten negativen Gedanken. Innerhalb von dreißig Minuten kippte das Gefühl. Die negativen Gedanken überwogen die guten. Gegen drei Uhr gab es keinerlei positive Gedanken mehr, nur noch ein Bündel bloß liegender Nerven, über die er verzweifelt die Kontrolle zu behalten versuchte. Als er schließlich gegen vier Uhr einschlief, versank er in eine Traumwelt, und irgendwo in dieser Welt verschwand der ganze üble Scheiß, und er erwachte mit einem guten Gefühl.
Er streift die Bettdecke ab. Obwohl er jetzt allein schläft, liegt er immer noch auf derselben Seite des Betts wie seit seiner Hochzeit. Auf der anderen Seite hat das Bettzeug kaum Falten. Er schlüpft in seinen Hausmantel und in seine Hausschuhe und geht in die Küche. Das Haus ist warm, dank der zwei Heizungspumpen, die während der Nacht arbeiten. Er hat keinen Appetit, zwingt sich aber trotzdem, etwas zu essen. Er nimmt eine Schüssel Frühstücksflocken und ein Glas Orangensaft zu sich, und die ganze Zeit über bleiben seine Hände ruhig. Dies hier sind, denkt er, die Hände eines Killers. Er macht sich einen Toast, lässt ihn verbrennen und wirft ihn in den Müll. Dann toastet er vier neue Scheiben, diesmal gelingen sie, doch er isst sie nicht, sondern lässt sie im Toaster stecken. Genauso war es, als er den Anwalt getötet hat. Und später, als er auch den zweiten getötet hat. Kein Appetit. Es gab keinen Grund, warum es heute Morgen anders sein sollte.
Es ist kalt draußen. Aus irgendeinem Grund erinnert er sich plötzlich an seine Kindheit, wie er bei eiskaltem Wetter mit dem Fahrrad zur Schule fahren musste, gemeinsam mit tausend anderen Kindern überall in der Stadt, über eisige Straßen und durch die frostige Luft, in der sein Atem Wolken bildete. Nur ist es jetzt noch ein bisschen dunkler als damals auf seinem Schulweg. Es ist erst halb acht. Die Menschen fahren mit eingeschalteten Scheinwerfern und mit Kaffeebechern in ihren Getränkehaltern zur Arbeit, zu ihren Jobs, in denen sich alles um Zahlen oder Materialien oder Wörter oder physische Arbeit dreht, und vermutlich hat keiner von ihnen die Absicht, jemanden umzubringen. Es ist zu früh, als dass sich bereits Demonstranten draußen zeigen würden. Er schaltet das Radio ein. Offensichtlich ist es nicht zu früh, um bei den Sendern anzurufen.
Er parkt in der Straße zwischen dem Bürogebäude und dem Gericht, überlegt es sich dann aber anders und fährt um die Ecke hinter das Gebäude, von dem aus er schießen wird. Schon bald wird der Verkehr hier zunehmen, und er möchte nach den Schüssen nicht zehn Meter vor dem Hinterausgang des Gerichts in einen Verkehrsstau geraten. Für den Fußweg zurück zum Bürogebäude braucht er dreißig Sekunden. Er nimmt die Treppe hinauf in den dritten Stock und schließt das Büro auf. Das Klebeband hat die Abdeckplane an Ort und Stelle gehalten, daher ist das Büro dunkel. Er marschiert eine Minute in dem Raum auf und ab, dann setzt er sich und lehnt sich gegen die Wand. Aus der mitgebrachten Thermoskanne gießt er sich eine Tasse Kaffee ein und trinkt sie in langsamen Schlucken, während er verfolgt, wie es im Büro langsam heller wird. Er nimmt ein Foto von Angela aus seiner Tasche und legt es auf seinen Oberschenkel.
»Was tust du da?« , fragt sie ihn.
»Heute ist der Tag«, erklärt er ihr.
»Wirst du ihn töten?«
» Ja«, sagt er zu ihr, obwohl sie natürlich nicht wirklich hier ist, das weiß er, aber Himmel, wäre es nicht toll, wenn sie ihn jetzt auf irgendeine Art hören könnte. »Ich weiß, dass dich das nicht zurückbringt«, sagt er, »aber ich hoffe, dass du dich dann besser fühlst.«
»Du glaubst, es würde mich ehren, wenn du ihn tötest?«, fragt sie . »Du glaubst, Mutter hätte es gewollt, dass du jemanden im Namen deiner Tochter tötest? Oder ich?«
»Ja«, sagt er.
Sie schweigt.
»Ist das denn nicht so?«
» Doch« , sagt
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