Opferzeit: Thriller (German Edition)
messen.
»Nehmen Sie ihm die Handschellen ab«, sagt Melissa.
»Das ist keine gute Idee«, entgegnet Jack.
»Sie sind zu viert und alle bewaffnet, dazu ein Wachmann, und dieser Mann hier ist sehr krank. Ich denke, wir können das Risiko eingehen und seine Fesseln lösen.«
»Nein«, sagt Jack.
»Wir müssen sie ihm während der Verhandlung sowieso abnehmen«, sagt Kent. »Dann können wir es genauso gut auch jetzt tun.«
Jack wirkt verärgert, und es ist schwer zu sagen, was ihn mehr nervt, dass er mir die Ketten abnehmen muss oder dass er überstimmt wurde. Er beginnt, meine Handschellen und Fußfesseln zu lösen.
»Sein Blutdruck ist erhöht«, sagt die Schwester, »aber die Temperatur ist normal.«
Melissa beugt sich über mich. Sie beginnt, eine Seite meines Bauchs zu drücken. Dabei blickt sie mir ins Gesicht. Sie übermittelt mir eine stumme Botschaft. Die klar und vernehmlich bei mir ankommt. Sie berührt meinen Bauch. Ich krümme mich vor Schmerzen, ohne dass ich welche spüren würde. Meine Innereien fühlen sich immer noch gut an.
»Fassen Sie mich nicht an«, sage ich.
»Er muss ins Krankenhaus«, sagt Melissa.
Ich schiebe ihre Hand weg. »Es tut weh«, erkläre ich ihr.
»Wir müssen ihn in den Rettungswagen bringen. Womöglich hat er einen Blinddarmdurchbruch. Daran könnte er sterben.«
»Das ist ein Trick«, sagt Jack.
Ich rolle mich auf die Seite und beginne wieder zu würgen. Ich versuche zu kotzen, aber es kommt nichts heraus, trotzdem sorgt allein das Geräusch dafür, dass Kent das Gesicht verzieht.
»Er hat gesagt, er hätte etwas Schlechtes gegessen«, erklärt die Schwester.
»Das mag der Grund sein oder auch nicht, jedenfalls bin ich keine Rettungssanitäterin geworden, um tatenlos zuzusehen, wie Menschen leiden, wenn ihnen ohne Weiteres ge holfen werden kann.« Melissa stemmt die Hände in die Hüften und starrt Jack an. »Selbst wenn es nur eine Lebensmittelvergiftung ist, nun, in diesem Land sterben jährlich gut zweihundert Menschen an Lebensmittelvergiftungen«, sagt sie, und obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass diese Zahl frei erfunden ist, klingt sie sehr überzeugend. »Hört zu, Leute, ich weiß, um wen es sich hier handelt. Ihr habt hier einen Serienkiller, dem der Prozess gemacht werden soll, aber wenn wir ihn jetzt nicht ins Krankenhaus bringen, dann habt Ihr hier sehr bald einen mausetoten Serienkiller, dem der Prozess gemacht werden soll.«
»Sie sagen es so, als wäre das was Schlechtes«, bemerkt Jack, und eigentlich möchte ich ihm entgegnen, dass ich verstanden habe, worauf er hinauswill, und dass das wohl jeder im Raum hier hat, und dass er es sich am besten auf ein T-Shirt drucken lässt und dann die Klappe hält.
»Es ist mein Job, Menschenleben zu retten«, sagt sie. »Und genau das ist auch Ihre Aufgabe.«
»Joe ist kein Mensch«, sagt Jack, und ich ahne, dass es zu einer weiteren Abstimmung kommen wird.
»Wir blasen es ab«, sagt Kent.
»Was?«, fragt Jack.
»Wir blasen es ab. Schau ihn dir an, die Verhandlung soll in fünf Minuten beginnen. Wir blasen es ab. Verständige die anderen, dass wir ihn ins Krankenhaus schaffen und eine Eskorte brauchen. Je schneller wir ihn gesund wiederhaben, desto schneller können wir ihn vor den Richter bringen.«
Also bläst Jack die Sache ab. Er wirkt aber nicht sehr glücklich dabei.
»Schaffen wir ihn zum Rettungswagen«, sagt Melissa – oder die Person, von der ich hoffe, dass sie Melissa ist.
Die Beamten, die mich vorhin gestützt haben, helfen mir auch jetzt wieder. Ich schwanke ein wenig, obwohl ich mich immer noch wesentlich besser fühle. Die Polizisten führen mich hinaus auf den Flur, Kent und Jack hinter uns, während der Wachmann und Melissa vorneweg in Richtung Ausgang gehen, hinaus zu der schreienden Menge, den Plakaten und einigen als Jesus verkleideten Personen.
Kapitel 61
Etwas geht da unten vor sich.
Vor fünf Minuten hat Raphael beobachtet, wie der Wachmann an den Rettungswagen trat, ans Fenster klopfte und Melissa ihm dann ins Gerichtsgebäude folgte. Die zweite Frau im Rettungswagen ist nicht ausgestiegen. Was keinen Sinn ergibt. Doch dann wird es ihm plötzlich klar – Melissa hat ihr etwas angetan. Vermutlich hat sie die Frau nicht getötet. Denn da Melissa keine echte Sanitäterin ist, braucht sie die Sanitäterin lebendig. Melissa will, dass Joe am Leben bleibt. Jetzt ist er sich ganz sicher. Das erklärt auch den zweiten Sanitäter, aber es erklärt noch nicht, was der
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