Opferzeit: Thriller (German Edition)
sein. Er richtet das Fadenkreuz auf ihre Körpermitte. Vielleicht wird es kein tödlicher Schuss, aber zumindest wird die Polizei herausfinden, wer sie ist, und die Rote Wut zeigt sich äußerst zufrieden bei dieser Vorstellung.
Er drückt den Abzug.
Diesmal bäumt sich das Gewehr in seinen Händen auf, und der Schuss ist viel leiser, nur ein Bruchteil der lauten Explosion von vorhin, aber vielleicht kommt es ihm auch nur so vor, weil seine Ohren immer noch von dem ersten Schuss dröhnen, oder vielleicht ist der Knall auch nur deshalb leiser, weil es eine andere Munition ist. Der Lauf der Waffe verfängt sich im Vorhang und zieht ihn vom Boden hoch. Während die Welt dort unten auf ihn aufmerksam wird, fragt er sich erneut für einen Moment, was schiefgelaufen ist, beschließt dann aber rasch, dass alles in Ordnung ist und er lediglich auf dem wackeligen Podest das Gleichgewicht verloren hat.
Er legt das Gewehr erneut an und sieht, dass Melissa nicht getroffen wurde. Er hat noch einen Schuss übrig. Sie oder Joe. Nun, Joe ist bereits getroffen, und wenn das Glück auf Raphaels Seite ist und nicht auf der von Joe, dann wird der Scheißkerl auf dem Parkplatz verbluten. Also entscheidet er sich für Melissa. Er drückt den Abzug, so wie er ihn gedrückt hat, als er die Anwälte erledigt hat, oder als er auf wehrlose Blechdosen geballert hat, aber diesmal bäumt sich das Gewehr so heftig auf, dass es ihm aus der Hand gerissen wird. Er hört, wie seine Finger brechen und spürt es noch deutlicher. Er rollt vom Podest und knallt mit der Schulter auf den Boden.
Er versteht nicht, was los ist …
Nun bleibt ihm keine Zeit mehr. Die Munition ist aufgebraucht.
Er rappelt sich auf. Er ist schon viel länger hier, als er eigentlich sollte. Ein rascher Blick durch den Schlitz in der Plane zeigt ihm, dass ein Cop Melissa und Joe zum Ret tungswagen hinüberhilft, während Schroder aus dem Hinterausgang auf den Parkplatz stürmt. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Fünfzehn Sekunden vielleicht. Definitiv zu lang.
Er hält sich nicht damit auf, das Gewehr zurück in die Zwischendecke zu schieben. Er pult die Latexhandschuhe von seinen Fingern, die schmerzen wie verrückt. Die Handschuhe stopft er in seine Tasche. Dann zieht er die Ohrenschützer ab und wirft sie zu Boden, bevor er merkt, dass dies ein Fehler ist, weil seine Fingerabdrücke darauf sind. Scheiße. Er hat die Handschuhe zu früh ausgezogen. Hat er irgendwas von diesem ganzen Zeug ohne seine Handschuhe angefasst? Vielleicht. Als er das Gewehr zusammengebaut hat. Als er es gestern abgefeuert hat. Als er Samstagabend hierhergekommen ist. Hat er da Handschuhe getragen? Er vermutet es, ist sich plötzlich aber nicht mehr sicher. Ihm bleibt keine Zeit mehr, das Gewehr gründlich abzuwischen. Er blickt sich um. Blickt zu den Farbdosen. Blickt wieder zum Gewehr. Das wird funktionieren. Er zieht die Handschuhe wieder an, und zwanzig Sekunden später läuft er die Stufen hinab.
Kapitel 62
Die Hölle ist losgebrochen.
Joe Middleton liegt auf dem Boden. Sein Körper ist vorne blutüberströmt. Sein eigenes Blut. Er krümmt sich vor Schmer zen. Kent ist hinter Schroders Wagen in Deckung gegangen. Auch die beiden bewaffneten Polizeibeamten haben sich jeder hinter einen Wagen geflüchtet. Aus der Deckung heraus versuchen sie festzustellen, von wo auf sie geschossen wird und mit wie vielen Schützen sie es zu tun haben. Einer der beiden spricht hektisch in ein Sprechfunkgerät. Eine Sanitäterin tut ihr Möglichstes, um Joe aus der Schusslinie und zum Rettungswagen zu schleifen. Der Wachmann läuft geduckt zurück zum Gerichtsgebäude. Die Menschen auf der Straße schreien, kauern sich zusammen, bedecken die Köpfe mit ihren Armen und mit den Plakaten, und keiner ruft mehr zwei, vier, sechs, acht .
Schroder braucht zwei Sekunden, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Die Art, wie die Leute auf der Straße Zuflucht suchen, verrät ihm, woher die Schüsse kamen. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Bürogebäude. Er blickt an der Fassade hinauf und entdeckt ein geöffnetes Fenster mit einem Vorhang dahinter. Geduckt rennt er zu seinem Wagen und hockt sich neben Kent.
»Was zum …«, sagt er.
»Ein Schuss«, sagt Kent, die ihre Pistole in beiden Händen hält. »Das Bürogebäude auf der anderen Straßenseite. Ich hab das Mündungsfeuer gesehen. Middleton hat’s erwischt.«
»Warum ist er wieder rausgeschafft worden
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