Opferzeit: Thriller (German Edition)
Wachmann wollte. Hat es etwas damit zu tun, dass Joe krank ist? Er sah ziemlich mitgenommen aus.
Raphael legt seinen Finger auf den Schutzbügel um den Abzug. Seine Hände sind immer noch ruhig. Er ist jetzt nicht mehr nervös. Ein untrügliches Anzeichen dafür, dass er das Richtige tut. Als ob jede einzelne Faser seines Körpers die Entscheidung mitträgt, jede einzelne Zelle sich diesem Ziel unterordnet und sie alle zusammenarbeiten, weil sie wollen, dass es geschieht. Er wird Joe nicht in die Schulter schießen wie verabredet. Jetzt wird er ihm in den Kopf schießen. Ursprünglich ging es nur darum, ihn zu verwunden, und nicht darum, ihn zu töten. Raphael sollte das Verwunden übernehmen, und Melissa wollte Joe mit dem Rettungswagen einsammeln.
Raphael war der Schütze. Melissa war die Sammlerin. Gemeinsam wollten sie Joe Leid zufügen. Jetzt ist Raphael der Schütze, und er wird schießen, um zu töten. Natürlich ärgert ihn, dass er Joe nicht mehr foltern kann. Aber auch die neue Lösung wird ihm zumindest eine gewisse Befriedigung verschaffen. Er fixiert aufmerksam den Hinterausgang des Gerichtsgebäudes. Er hält das Zielfernrohr auf die Tür gerichtet. Dann öffnet sich die Tür. Melissa und der Wachmann treten heraus, gefolgt von Joe und den beiden Polizeibeamten, die ihm vorhin bereits geholfen haben – woraufhin die Schreie aus der Menge sofort lauter werden –, und als Schlusslichter folgen Kent und der Typ, der vorhin den Transporter gefahren hat. Was immer Joe vorhin fehlte, fehlt ihm auch jetzt noch. Seine Haut ist bleich. Er wirkt, als hätte er große Schmerzen. Gut so.
Melissa blickt hoch zu Raphael. Er kann ihr Gesicht im Zielfernrohr sehen. Sie schüttelt langsam den Kopf, und er lächelt langsam, er kann es sich nicht verkneifen. Sie will nicht, dass er schießt. Es besteht keine Notwendigkeit. Irgendetwas ist passiert, und sie hat Joe herausgeholt, aber nicht so, wie es geplant war. Es muss irgendetwas damit zu tun haben, dass Joe krank ist. Das muss es sein. Joe ist krank, und natürlich denken alle dort unten, Melissa wäre eine echte Rettungssanitätern. Er richtet das Zielfernrohr wieder auf Joe.
Joe, der Mann, der ihm seine Tochter geraubt hat.
Joe, der Mann, der sein Leben ruiniert hat.
Er denkt daran, dass Vivien eine Popsongs singende Ballerina werden wollte. Er denkt daran, dass Adelaide auf eine Harry-Potter-Schule gehen und Magie lernen wollte. Er denkt daran, dass er seine Enkel so gut wie nie sieht, und daran, wie sehr er seine Tochter vermisst, und dass Vivian und Adelaide ohne Mutter aufwachsen.
Hallo, Rote Wut. Schön, dass du zurück bist.
Er hält den Atem an.
Er nimmt Joes Gesicht ins Fadenkreuz.
Er drückt den Abzug.
Die Wirkung tritt augenblicklich ein. Natürlich tut sie das – trotzdem hatte er irgendwie erwartet, es würde eine Sekunde dauern, vielleicht auch nur eine halbe, bis die Naturgesetze ihr Werk verrichten. Der Knall wird durch die Ohrenschützer gedämpft, trotzdem ist er viel lauter als draußen im Wald, laut genug, um seine Ohren klingeln zu lassen. Das Echo hallt durchs Büro und hinaus auf die Straße, und wie eine einzige Person drehen dort unten alle ihren Kopf in seine Richtung.
Bis auf Joe.
Denn Joe verliert das Gleichgewicht. Das Problem – denn natürlich war mit Problemen zu rechnen, und es war dumm von ihm zu denken, es könne anders sein –, das Problem liegt darin, dass der Schuss Joe nur in der Brust erwischt hat, vielleicht auch in der Schulter, jedenfalls ganz sicher nicht im Kopf, so wie er es wollte. Vielleicht liegt es an der Dynamik der Kugel oder an den Nerven, er weiß es nicht. Aber was er ganz sicher weiß, ist, dass die Rote Wut ihn anbrüllt, einen weiteren Schuss abzugeben, und natürlich wird er das tun. Er hat immer noch Zeit.
Die beiden Beamten, die Joe gehalten haben, scheinen sich plötzlich nicht mehr für ihn zuständig zu fühlen. Sie lassen ihn einfach fallen und bringen sich in Sicherheit. Joe, ohne die Stütze seiner menschlichen Krücken, klappt in sich zusammen, ähnlich wie vorhin, als er den Transporter verlassen hat. Detective Kent bringt sich hinter Schroders Wagen in Sicherheit. Alle suchen Deckung – alle, bis auf Joe und Melissa.
Melissa. Warum sollte sie sich auch verstecken? Er hat Joe in die Schulter geschossen, genau wie sie es verlangt hat. Sie beginnt, Joe in Richtung Rettungswagen zu schleifen. Der ganze Schütz e/ Sammler-Teil des Plans muss in ihrer Vorstellung immer noch in Kraft
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