Opferzeit: Thriller (German Edition)
trotzdem kann ich es noch kaum fassen. Angeschossen? Ich bin noch nie angeschossen worden – was natürlich so nicht ganz stimmt. Vor einem Jahr habe ich mich selbst angeschossen, obwohl in dem Fall dieser Ausdruck nicht ganz stimmt – vielmehr war es so, dass mein Gesicht von einer Kugel zerfurcht wurde, aber angeschossen? Jedenfalls nicht so wie bei dem hier jetzt.
Ich versuche erneut, mich aufzusetzen, dieses Mal gelingt es mir besser, und ich kann durch die vordere Windschutzscheibe sehen. Ich lege meine Hand auf die Einschusswunde, betrachte das Blut auf meiner Handinnenfläche, dann presse ich sie wieder gegen meine Schulter. Ich will etwas zu Melissa sagen, aber ich weiß nicht was. Außerdem ist sie aufs Fahren konzentriert. Stark konzentriert. Einige Leute haben ihre Protestplakate fallen lassen, sie überrollt ein paar davon, und die Plakate zersplittern unter den Reifen wie die Knochen eines Hundes. Ein grüner Troll prallt gegen die Seite des Rettungswagens, außerdem zwei Zombies und eine Marylin Monroe, und sie bleiben benommen und verwirrt zurück, als Hindernisse für unsere Verfolger. Ich habe keine Ahnung, warum diese Leute so verkleidet sind. Als wir über die Kreuzung fahren, erkenne ich den Haupteingang des Gerichtsgebäudes und den Konvoi für das Ablenkungsmanöver vom Vormittag. Er ist von einer Menschenmenge umzingelt, wütende Menschen, die an den Wagen rütteln, mit den Fäusten gegen die Fenster trommeln, denn es hat sich herumgesprochen, dass ich nicht dort drin bin. Diese Menschen sind ganz normal gekleidet, sie tragen Jeans und Hemden und Kleider und Jacketts, keiner von ihnen hat eine Maske auf oder steckt in einem Hollywood-Outfit, obwohl auch hier viele ein Plakat tragen. Die bewaffneten Polizeibeamten kommen nicht von der Stelle. Sie können das Feuer nicht eröffnen. Ohne Zweifel würden sie am liebsten auf die Dächer ihrer Streifenwagen klettern und wild in die Luft ballern – vielleicht sind sie auch schon wütend genug, um in die Menge zu schießen, damit sie sich teilt wie das Rote Meer und sie uns folgen können. Falls sie das tatsächlich vorhaben, sollten Sie vielleicht den Kerl um Rat fragen, der wie Moses gekleidet ist und zwei große altmodische iPads aus Pappe trägt, jedes von der Größe eines menschlichen Oberkörpers. Auf jedem der Tablets stehen Gebote, nur sind sie abgewandelt, und ich habe gerade noch Zeit, zu lesen Du sollst beim Tanzen deinen Schwanz zeigen , bevor ein Kerl in einem Cowboy-Outfit und mit Gorillamaske aus der Menge auftaucht, sich auf ihn stürzt und sie beide in der Menge untertauchen.
Ich sinke zurück auf den Boden. Ich schnappe mir ein paar Mullbinden und presse sie auf meine Wunde. Gott sei Dank fühlen sich meine Innereien immer noch gut an, trotzdem mache ich mir Sorgen, dass sie mir nur eine kurze Pause gönnen, weil mein Körper sich gerade mit viel schlimmeren Problemen herumschlagen muss.
»Meine Tasche«, ruft Melissa und wirft mir über die Schul ter einen kurzen Blick zu.
»Was?«
»Meine Tasche. Gib mir meine Tasche.«
»Welche Tasche?«
Erneut späht sie über ihre Schulter und diesmal sucht sie mit den Augen den Wagenboden ab. »Dort«, sagt sie, »neben dem Fuß der Frau. Die schwarze Tasche.«
Eine kleine schwarze Tasche liegt genau da, wo sie ge sagt hat.
»Gib sie mir«, sagt sie.
»Was ist da drin?«
»Beeil dich, Joe«, sagt sie. »Schroder ist uns sicher schon auf den Fersen.«
Ich strecke meinen Arm aus und greife mir die Tasche. Dann reiche ich sie ihr. Sie öffnet sie mit einer Hand, während sie mit der anderen das Lenkrad umklammert hält. Sie zieht einen kleinen Kasten mit einem Plastikdeckel heraus und zieht den Deckel ab, unter dem sich ein Schalter verbirgt. Sie klemmt sich den kleinen Kasten zwischen ihre Beine, damit er nicht zu Boden fallen kann. Dann packt sie das Lenkrad wieder mit beiden Händen. Erneut blickt sie in den Rückspiegel.
»Das Timing ist entscheidend«, sagt sie.
»Ich hab dich vermisst«, erkläre ich ihr.
»Diese ganze Verwirrung und das Chaos«, sagt sie, »genauso habe ich es mir vorgestellt. Das wird ziemlich leicht für uns, Joe, und für alle anderen ein riesengroßer, unüberschaubarer, tausendfacher Schlamassel«, sagt sie, während sie in den Rückspiegel blickt und dann eine Hand über die Fernbedienung hält.
Kapitel 64
Raphael ist eigentlich davon ausgegangen, dass sie ihn schnappen würden. Er hat sich bereits im Treppenhaus von Cops umzingelt gesehen, die
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