Opferzeit: Thriller (German Edition)
sagt sie. »Du kannst nicht klar denken.«
»Doch, das kann ich!«, sage ich lauter als beabsichtigt. Ich knirsche mit den Zähnen, hole tief Luft und bemerke, dass meine Schulter nicht mehr schmerzt. Welche Drogen auch immer sie mir gegeben haben, ich möchte sie weiternehmen. »Das waren Liebesromane. Sie hat bestimmte Titel ausgewählt, aber meine Mutter hat alles durcheinandergebracht.«
»Deine Mutter?«, fragt Melissa.
»Bitte«, sagt Sally zu Melissa, »ich habe Joe immer nur geholfen. Letztes Jahr, als Sie seinen Hoden zerquetscht haben, da habe ich ihm geholfen, und ich habe sein Leben gerettet, als er verhaftet wurde, und jetzt …«
Jetzt höre ich nicht länger zu. Ich denke an meinen Ausflug in den Wald. Es war Sally, die meine Flucht geplant hat. Ich und Sally rennen durch den Wald, lassen einen Haufen toter Polizisten hinter uns; ich und Sally sitzen auf einem Baum, T-Ö-T-E-N, rennen gemeinsam in Richtung Zukunft, nur ist eine gemeinsame Zukunft mit Sally in etwa so attraktiv wie … nun ja, sich den Hoden zerquetschen zu lassen oder im Gefängnis eingesperrt zu sein oder seine Hinrichtung zu erwarten – oder Vater zu werden.
»Joe«, ruft Melissa, und mir wird bewusst, dass sie meinen Namen schon mehrere Male gerufen hat. »Du denkst immer noch über diese Bücher nach, wie ich sehe. Sie wollte dir nicht bei der Flucht helfen.«
»Ich … ich verstehe nicht.«
»Hast du ihm die Bücher gegeben, von denen er spricht?«, fragt Melissa.
Sally nickt. »Er mag Liebesromane«, sagt sie, während sie mich anschaut und zu Melissa spricht, als wäre ich nicht im Raum.
»Da war eine Botschaft«, sage ich, aber meine Worte überzeugen nicht einmal mich selbst.
»Wirklich? Dann frag sie, was die Botschaft war«, sagt Melissa.
»Bitte«, sagt Sally kopfschüttelnd, starrt mich an und redet jetzt zu mir, und ich erinnere mich an unsere Unterhaltungen früher bei der Arbeit, ich erinnere mich, wie sie mir jeden Tag ein Sandwich machte, die gute alte verlässliche Sally, die Sally mit dem guten Herzen, die schlichte Sally. The Sally eben. Sally mit den Sandwiches, die mich nicht krank gemacht haben.
»Wir brauchen sie nicht mehr«, sagt Melissa.
»Nein, ich schätze, das tun wir nicht«, sage ich.
»Joe«, sagt Sally.
»Pst«, sage ich und lege einen Finger auf meine Lippen. »Es kommt alles in Ordnung«, erkläre ich ihr.
»Joe«, sagt sie, jetzt mit etwas höherer Stimme. »Joe …«
»Ich hab sie für dich am Leben gehalten, Joe«, sagt Melissa. »Ich hab sie dir aufgehoben, damit du sie töten kannst.«
Sally. Arme Sally. Übergewichtige Sally. Die immer Hilfsbereite. Sally, die durchs Polizeirevier watschelte und von allen anderen ignoriert wurde, genauso wie ich herumwatschelte und ignoriert wurde, nur watschelte ich mit vierzig Pfund weniger Gewicht durch die Gegend als sie. Ich schüttle den Kopf. Es ist an der Zeit, den Leuten zu beweisen, dass ich kein Unmensch bin, und welcher Zeitpunkt ist dafür geeigneter als dieser hier.
»Ich werde sie nicht erschießen«, erkläre ich Melissa.
Sally schaut glücklich. Melissa schaut traurig.
»Mach du es«, erkläre ich Melissa. »Aber mach’s schnell.« Ich will nicht, dass Sally leiden muss. So ein guter Mensch bin ich.
Kapitel 74
Dieser Teil des Krankenhauses ist ein Labyrinth. Schroder war früher schon hier, um Leute zu besuchen. Er hat draußen vor den Operationssälen gewartet, während drinnen die Opfer von Verbrechen starben. Er war hier, als Freunde und Kollegen um ihr Leben kämpften, einige von ihnen haben es geschafft, andere nicht.
Dr. Hearse sieht ihn und kommt herüber. Auf sein Gesicht malt sich derselbe missbilligende Ausdruck, den sein Zahnarzt immer zeigt, wenn er feststellen muss, dass Schro der nicht regelmäßig die Zahnseide benutzt. »Ich weiß, dass Sie ungeduldig sind, aber sie operieren sie immer noch.«
»Zeigen Sie mir den schnellsten Weg zum Parkplatz hinter dem Krankenhaus.«
»Einen Teufel werde ich tun. Sie brauchen ärztliche Behandlung.«
»Geben Sie mir einfach was gegen die Schmerzen.«
»Was zum Teufel habt ihr Cops für ein Problem? Wir sollen immer irgendwelche Wunder vollbringen, wenn euer Leben auf dem Spiel steht, aber wenn es um Verletzungen geht, scheint es euch völlig egal zu sein.«
»Tja, das ist wohl die Ironie des Lebens«, erwidert Schroder. »Hören Sie, es ist wichtig. Können Sie mir bitte etwas geben?«
»Nein. Sie müssen wieder mitkommen und …«
»Später«, sagt Schroder.
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