Opferzeit: Thriller (German Edition)
gegen die Wand gelehnt. Mir war bisher nicht nach reden zumute, und jetzt ist es nicht anders. Ich ignoriere die Frage, und kurz darauf lässt er eine weitere vom Stapel. »Was wollen die von dir? Versuchen sie immer noch, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben?«
Ich nehme einen der Liebesromane zur Hand. Ich habe sie alle bereits mehrere Male gelesen, denn es gibt wenig, was man sonst tun könnte. Ich lese ihn rückwärts, um die Zeit totzuschlagen, und habe meinen Spaß daran, wie das Happy End den Bach runtergeht, während der Mann mit den durchtrainierten Bauchmuskeln und dem kantigen Kinn und die Frau mit dem wunderschönen Haar und den fantastischen Möpsen sich auseinanderleben, bis sie sich nicht einmal mehr kennen.
»Sie kapieren es einfach nicht«, sagt Santa Kenny. »Sie sehen uns, sehen die Stadt in einem Zustand der Paranoia, und dann geben sie uns die Schuld. Die wahren Täter können sie nicht finden, aber sie hassen uns, denn irgendwer muss immer bezahlen.«
Ich lasse das Buch sinken und schaue zu ihm auf. »Es sind schon verrückte Sachen, die man uns zur Last legt«, erkläre ich ihm. »Hey, man hat dich zwar als Weihnachtsmann verkleidet in einem gestohlenen Wagen erwischt, mit deinem Opfer im Kofferraum, aber das hatte sicher nichts zu bedeuten.«
»Genau«, sagt Santa Kenny.
»Dass es April war, war auch nicht gerade hilfreich. Dadurch bist du aufgefallen.«
»Genau. Aber ist es denn ein Verbrechen, an Ostern ein Weihnachtsmannkostüm zu tragen?«
»Sollte es eigentlich nicht«, erkläre ich ihm. »Findest du, es ist ein Verbrechen, an Weihnachten ein Osterhasenkostüm zu tragen?«
»Woher zum Geier sollte ich wissen, dass der Junge im Kofferraum war?«
»Ja woher bloß?«
»Und den Wagen habe ich auch nicht gestohlen, ich dachte, er gehört mir. Er sah aus wie meiner. Außerdem war es dunkel. Jeder macht mal einen Fehler.«
»Im Dunkeln sehen die Dinge einfach anders aus«, erkläre ich ihm.
»Genau, darauf will ich hinaus. Dieser Junge, er glaubte, ich hätte ihn entführt, aber woher wollte er das wissen, ich habe ihm doch die Augen verbunden!«
»Stimmt«, sage ich. Wir haben dieses Gespräch schon mal geführt, schon etliche Male. Bestimmt könnte ich von den fünfzigtausend Dollar jemanden bezahlen, der ihm für immer das Maul stopft.
»Lust auf ’ne Runde Karten?«
»Vielleicht später«, sage ich.
Er zuckt mit den Achseln, als wäre später eine Beleidigung. »In zwanzig Minuten ist Mittag«, sagt er und verschwindet. Ich nehme den Liebesroman wieder zur Hand, starre auf die Seiten und lese immer wieder dieselbe Stelle. Sollte ich je ein Buch schreiben, in dem ein Mann und eine Frau sich verlieben, dann realistisch, wie die Sache zwischen Melissa und mir. Sie fehlt mir. Sehr.
Erneut tauchen die beiden Gefängniswärter auf, um mich zu holen. Heute haben sie wirklich Gefallen an mir ge funden.
»Gute Neuigkeiten«, sagt Adam.
»Ich darf nach Hause?«
»Siehst du? Manchmal kapierst du schnell«, sagt er.
Sie bringen mich wieder aus dem Zellenblock. Komischerweise bin ich froh über die Auszeit von meinem Alltag hier, denn eine Auszeit werden die nächsten Tage aufgrund des Prozesses sein. Der letzte Monat und der vorletzte Monat und die Monate davor verliefen alle gleich. Ich wache auf. Starre irgendwelche Gegenstände an. Ich esse. Ich starre noch mehr Gegenstände an. Dann gehen die Lichter aus. Nächste Woche muss ich vor eine Jury treten, und sie wird mich auf keinen Fall verurteilen. Ich bin Joe. Die Leute mögen Joe.
Man bringt mich in dasselbe Verhörzimmer wie eben. Mein Anwalt wartet bereits. Er stellt seinen Aktenkoffer auf den Tisch, und für einen Moment frage ich mich, ob er voller Messer ist. Er ist Ende fünfzig. Er ist nicht mehr so jung, dass er überheblich wirkt, und noch nicht so alt, dass er mitsamt seiner ganzen Erfahrung und seinem Wissen vor Weihnachten in einem Sarg landet. Er heißt Kevin, und Kevin trägt einen hübschen Anzug, wie ich ihn nie tragen würde, hat ein penetrantes Aftershave aufgelegt, wovon mir schlecht wird, und er hat eine übergewichtige Frau, die ich nicht mit der Beißzange anfassen würde. Das Foto von ihr, das im Deckel seines Aktenkoffers klemmt, muss genauso viel wiegen wie der Koffer selbst.
Die Wärter befestigen mich mit Handschellen an meinem Stuhl. Dann verschwinden sie.
»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, sagt Kevin.
»Gute, nehme ich an?«
Er schüttelt den Kopf. »Schlechte Neuigkeiten.«
»Ich will
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