Opferzeit: Thriller (German Edition)
baumeln.«
»Baumeln?«
»So hat man das früher gemacht, Joe. Früher hat man die Leute aufgehängt. Das letzte Mal 1975, aber wenn Sie auf den Deal nicht eingehen, dann gehen Sie nicht nur als Schlächter von Christchurch in die Geschichte ein, sondern auch als der Mann, dem wir die Wiedereinführung der Todesstrafe verdanken.«
»Aber …«
»Hören Sie mir zu, Joe«, sagt er in einem Tonfall, den ich aus meiner Kindheit kenne, und der mir heute genauso wenig wie damals gefällt. »Hören Sie mir zu. Man will die Todesstrafe wieder einführen. Okay? Die Bevölkerung glaubt, das sei der einzige Weg zurück zu einer zivilisierten Gesellschaft. Es ist Wahljahr. Die Politiker hören jetzt auf die Wähler. Man hat die Politiker gefragt, ob sie das Gesetz verabschieden werden, wenn es eine Mehrheit dafür gibt, und sie haben versichert, sie werden es tun. Denn sie wollen die Stimmen der Wähler. Es ist ein Minenfeld. Sie müssen auf den Deal eingehen. Sie müssen auf mich hören, wenn ich Ihnen sage, dass dies die einzige Möglichkeit ist, Ihr Leben zu retten.«
»Sie können mein Leben retten, indem Sie mich hier rausholen«, sage ich. »Ich kann nichts für das, was ich getan habe. Es war nicht meine Schuld. Mit Medikamenten und einer Therapie kann ich …«
Er fängt an, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. »Ich habe gesagt, dass Sie mir zuhören sollen, aber Sie hören nicht zu.«
»Was?«, frage ich.
»Lassen Sie es mich einfacher formulieren, Joe. Sie«, sagt er, hört auf zu trommeln und zeigt mit dem Finger auf mich, damit ich genau weiß, wen er meint, »Sind. Total. Im. Arsch«. Jedes Wort ist wie ein Stich. »Also gehen Sie auf den Deal ein und erzählen der Polizei alles, was sie über Melissa wissen muss und wo Detective Calhoun begraben liegt. Ersparen Sie der Stadt einen unappetitlichen Prozess. Es wird einen Massenauflauf von Demonstranten geben, und die eine Hälfte will Sie tot sehen, die andere, dass Sie für immer im Knast verschwinden – aber alle hassen Sie. Das wird eine hässliche Sache. Es gibt hier niemanden, der Sie unterstützt, Joe. Kein einziges Mitglied der Jury wird auf Ihrer Seite sein.«
»Ich kann hier keine lebenslängliche Strafe absitzen. Keine zwanzig Jahre«, sage ich und versuche, es mir vorzustellen. Ich stelle mir vor, wie ich in meinen Fünfzigern bin, mit Geheimratsecken wie mein Vater. Ich stelle mir vor, wie ich versuche, einen Wagen zu klauen, ich stelle mir vor, wie ich mit kaputter Hüfte und leichter Arthritis jemanden, mit dem ich mich nicht so gut verstanden habe, in den Kofferraum verfrachte. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mit kaputtem Rücken an einem Krückstock und mit einem Messer bewaffnet die Treppe zu einem Opfer hinaufschleiche. Jedes Jahr wird eine brandneue fünfundzwanzigjährige Frau auf den Markt geworfen, die ich gerne besuchen würde, und ich stelle mir vor, wie ich mit einer von ihnen in ihrem Badezimmer ein paar schöne Stunden verbringe und dabei über ihrem Waschbecken ein Büschel Haare verliere. Ich bin es gewohnt, dass diese Frauen mich mit angsterfüllten Augen anstarren. Aber wie werden sie mich in zwanzig Jahren anstarren? Amüsiert?
»Es gibt keinen Deal«, sage ich. »Ich will einen Prozess. Dann habe ich wenigstens eine Chance. Zwanzig Jahre oder Todesstrafe, das macht keinen Unterschied. Was, wenn ich in achtzehn Jahren im Knast sterbe? Dann wäre alles für die Katz gewesen. Ich will eine Alternative.«
Die ganze Zeit über schüttelt Kevin bedächtig den Kopf und kratzt sich an der Schläfe. Ein paar Hautschuppen landen auf seinem blütenreinen Jackett. »Nein, Joe, Sie verstehen nicht. In diesem Fall bedeutet lebenslänglich tatsächlich lebenslänglich. Nicht zwanzig Jahre. Nicht dreißig. Lebenslänglich bedeutet, dass Sie diese Wände nie wieder verlassen werden. Akzeptieren Sie den Deal, oder man legt Ihnen in einem Jahr eine Schlinge um den Hals.«
»Wenn das Gesetz verabschiedet wird«, sage ich.
»Theoretisch kann die Sache so oder so ausgehen. Aber praktisch wird das nicht passieren. Man wird das Gesetz verabschieden. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, um es sich zu überlegen.«
»Wie können die einem unschuldigen Mann so etwas antun?«, frage ich.
Mein Anwalt seufzt und lehnt sich zurück, sein Gesicht wirkt nicht so, als würde er mir auch nur im Geringsten glauben. Er scheint frustriert. Als würde er versuchen, einen Fernsehsender einzustellen, den er
Weitere Kostenlose Bücher