Opferzeit: Thriller (German Edition)
soll ich Einsicht zeigen, oder soll ich wie ein Fisch auf dem Boden herumzappeln?
»Das Problem ist, dass Sie sich benommen haben, als wären Sie geistig behindert«, sagt sie.
»Das stimmt nicht«, sage ich. »Das haben die anderen bloß in mir gesehen.«
»Das Problem liegt also bei den anderen?«
»Weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht auch bei mir. Aber die anderen haben alle auf mich herabgeschaut. Aus irgendeinem Grund hatten sie Mitleid mit mir. Ich habe das zwar mitgekriegt, aber ich wusste nicht, warum. Vielleicht schauen sie auf alle Hausmeister herab, weil wir nicht so toll sind wie sie.«
»Warum haben Sie die Leute nicht gefragt?«
»Wie hätte ich das machen sollen? Entschuldigung, Detective, aber warum halten Sie mich für einen Schwachkopf? So läuft das nicht. Sie haben mir immer das Gefühl gegeben, minderwertig zu sein«, sage ich, und Slow Joe hat sich jetzt verabschiedet, während sich Fast Joe zu Wort meldet, ja, Smart Joe, Smart Joe kommt jetzt in Fahrt. »Vielleicht haben sie mich deshalb so gesehen.«
»Das ist wieder eine ziemlich scharfsinnige Sicht der Dinge«, sagt Ali.
Ich antworte nicht. Das Problem mit Smart Joe ist, dass er manchmal etwas smarter ist, als ihm guttut.
»Ich will mehr über Sie erfahren«, sagt sie. »Dafür bleibt uns noch das Wochenende. Alles, was Sie zu mir sagen, ist vertraulich. Ich arbeite für Sie und Ihren Anwalt, nicht für die Staatsanwaltschaft.«
»Okay.«
»Aber sollte ich das Gefühl haben, Sie lügen, ist die Sitzung beendet, und ich komme nicht wieder, und dann werde ich der Jury vor Gericht genau das erzählen. Letztlich bedeutet das, Joe, dass ich, obwohl ich für Sie arbeite, auch der Wahrheit verpflichtet bin. Sie haben drei Tage, um die Wahrheit zu erzählen.«
Drei Tage, um nicht bei einer Lüge ertappt zu werden. Das kann ich schaffen. Oder: Wenn die Sache mit Melissa nach Plan verläuft, dann ist das nicht mal nötig. »Okay«, sage ich, und ich weiß, dass wir, was Ehrlichkeit betrifft, keinen besonders tollen Start hatten. »Also, womit sollen wir anfangen?«
»Ich möchte über Ihre Vergangenheit reden.«
»Meine Vergangenheit. Warum?«
»In diesem wiederkehrenden Traum, nehmen Sie da je die Maske ab? Hat Ihre Mutter Sie je erkannt?«
Ich denke darüber nach. In dem Traum trinke ich manchmal Bier, manchmal Cola, manchmal fahre ich einen blauen Wagen, manchmal einen roten, hin und wieder sieht das Haus auch anders aus, mein Haus oder ihr Haus oder eines von vielen anderen Häusern, in denen ich gewesen bin. Meine Mutter trägt entweder ein Nachthemd oder ein Kleid. Manchmal sind auch meine Goldfische da, und ich streue für sie kleine Stücke Hackbraten ins Wasser. Und ich bringe sie auf unterschiedliche Weise um. Das Einzige, was sich nie ändert, bin ich. Ich trage immer die Maske. Selbst wenn ich meiner Mutter Rattengift in den Kaffee schütte.
»Nein«, sage ich.
»Sind sie sicher?«
»Nicht wirklich. Ich meine, ich glaub nicht.«
»Und Ihre Mutter? Weiß sie, wer Sie sind?«
Ich denke darüber nach. Dann nicke ich erst und schüttle danach den Kopf. »Vielleicht. Sie macht einen bestürzten Ein druck. Sie hat ihren Weihnachtsblick aufgesetzt.«
»Ihren Weihnachtsblick?«
»Ja. So nenne ich ihn. Ihren überraschten Gesichtsausdruck. Aber das ist eine lange Geschichte.«
»Na ja, irgendwo müssen wir ja anfangen«, sagt Ali, »wie wär’s wenn wir damit anfangen?«
Und das tun wir.
Kapitel 24
Ich kann mich noch erinnern, dass ich früher an den Weihnachtsmann glaubte. Meine Eltern haben immer eine große Sache daraus gemacht. Wenn ich morgens aufwachte, waren die Kekse und die Milch, die wir für den Weihnachtsmann hingestellt hatten, fort, und der Sockel des Kamins war von Ruß umgeben, und jedes Mal erzählte mir Dad, er habe oben im Schornstein den Weihnachtsmann gehört und einen flüchtigen Blick auf ein Rentier erhascht. Das versetzte mich jedes Mal in helle Aufregung, und gleichzeitig war ich enttäuscht, dass ich ihn verpasst hatte. An Heiligabend gab ich mir immer größte Mühe, wach zu bleiben, und ich hatte keine Ahnung, dass ich es nicht geschafft hatte, bis ich gegen sieben Uhr morgens aufwachte, wenn die Sonne durch meine Vorhänge schien. Damals schlich sich der Weihnachtsmann in unser Haus, ohne dass es jemand mitbekam. Das habe ich mit ihm gemeinsam.
An dem Weihnachten, das für mich ganz besonders war, war ich acht Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich nicht mehr an den Weihnachtsmann –
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