Opferzeit: Thriller (German Edition)
erkenne schreckliche Dinge, die sich zwischen den Wolken abspielen. Ich muss das Schloss an der Eingangstür des Hauses, vor dem ich stehe, nicht knacken, denn ich habe einen Schlüssel und verschaffe mir damit Zugang. Ich freunde mich mit der kalten Luft an, die aus dem Kühlschrank strömt, und mit dem eiskalten Bier freunde ich mich erst recht an. Nicht mit einer Coke, mit einem Bier, denn Coke ist nicht im Angebot. Ich setze mich an den Tisch und höre aus dem Schlafzimmer Geräusche, vor allem Schnarchen, und hin und wieder das Knarzen einer Bettfeder, als jemand sein Gewicht verlagert. Dann merke ich, dass es nicht mehr Tag ist, dass da kein blauer Himmel mehr ist. Es ist jetzt Mitternacht. Ich bin in der Zeit weiter vorgesprungen; so ist das eben mit der Zeit, wenn man träumt. Ich kratze an der Maske und zupfe sie zurecht, dann öffne ich meinen Koffer und berühre die Messer darin.
Ich bleibe in der Küche, und nach einer Weile verstummt das Schnarchen, und es ertönen Schritte, weiter oben im Flur geht das Licht an, und zwei Minuten später wird die Klospülung betätigt. Erneut ertönen Schritte, und meine Mutter tritt zu mir in die Küche.
»Wer sind Sie?«, fragt Mom.
»Ich bin nicht Joe«, sage ich, denn das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass meine Mutter mich für einen schlechten Menschen hält. Und dann überlasse ich meinem Messer das Reden. Es redet unablässig auf sie ein, bis sie und ich und die Küche vollkommen im Einklang sind. Es ist eine Riesensauerei. Wie immer.
»Und so ist es jedes Mal?«, fragt sie, und besagte sie sitzt mir gegenüber.
Ich bin zurück im Verhörzimmer, zurück in der Wirklichkeit. Es ist Freitagmorgen, und der Tag begann mit großen Hoffnungen, als ich die Bücher von Melissa betrachtet und immer wieder ihre Botschaft gelesen habe. Dann gab es Frühstück und Blickkontakt mit Caleb Cole, bevor die Wachen aufgetaucht sind und mich geholt haben. Ich werde von meiner Psychiaterin befragt. Sie beugt sich vor und verschränkt ihre Finger. Offensichtlich tun das alle Psychiater. Offensichtlich zeigt der Lehrer auf der Psychiatrieschule am ersten Tag einen grobkörnigen Schwarz-Weiß-Film aus den Vierzigern und lässt alle Studenten üben, sich so hinzusetzen, dass sie intelligent wirken. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Leute in diesem Beruf nicht merken, wie bescheuert sie dabei aussehen. Das Gute an meiner Psychiaterin ist, dass sie optisch noch eine Menge mehr zu bieten hat. Sie ist attraktiv. Und so schön das sein mag, das ist nicht gerade hilfreich. Denn es lenkt mich ab. Joe geht deswegen jene Art von Gedanken durch den Kopf, die ihn überhaupt hierhergebracht hat. Vor ihr steht ein kleiner Rekorder und zeichnet jedes unserer Worte auf.
»So ist es jedes Mal«, erkläre ich ihr. »Meistens. Ich weiß nicht. Früher habe ich nicht geträumt. Allerdings bin ich mir da jetzt nicht mehr so sicher, denn der Traum kommt mir so vertraut vor. Als hätte ich ihn schon mein ganzes Leben geträumt. Manchmal werde ich davon wach und bin überzeugt, dass ich das tatsächlich getan habe, dass meine Mutter tot ist und dass ich deswegen hier bin. Einmal war ich so überzeugt davon, dass ich sie anrufen wollte, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht«, sage ich, obwohl die Sache mit dem Anruf nicht stimmt. »Manchmal vergifte ich sie auch. Einmal habe ich mich sogar als Einbrecher verkleidet, bin in ihr Haus geschlichen und habe sie zu Tode erschreckt. Die Träume kommen mir jedes Mal real vor.«
Ich füge nichts weiter hinzu, obwohl ich könnte. Denn ich bin nicht sicher, was die richtige Antwort ist. Die Psychiaterin heißt Alice, ihren Nachnamen habe ich vergessen. Ehrlich gesagt, habe ich auch ihren Vornamen vergessen. Vielleicht heißt sie gar nicht Alice. Sondern Ellen. Oder Alison. Oder womöglich Ali. Ich versuche, meinen Blick auf Alis Gesicht ruhen zu lassen, auf ihren sanft geschwungenen Wangenknochen, ihrer Kinnpartie, ihren hübschen großen blauen Augen. Ich versuche, meinen Blick nicht länger über ihren Körper wandern zu lassen, ihre Rundungen sind wie eine Schatzkarte, die zu einer Menge Orte führt, die ich gerne freilegen und plündern und in die ich gerne ein X ritzen würde. Sie trägt eine schwarze Hose und eine cremefarbene Bluse, aus der man Blut bestimmt nur verdammt schwer rausbekommt. Die Bluse ist nicht tief ausgeschnitten und die Hose nicht eng anliegend.
Es ist nicht nötig, sie zu fragen, ob meine
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