Opferzeit: Thriller (German Edition)
weil Ihre Mutter wütend auf Sie war?«
Weil ich eines meiner Lieblingshefte gegen etwas eingetauscht hatte, was jetzt nutzlos war. Das ist die eigentliche Wahrheit. »Beides. Vermute ich.«
»Sie sollten aufhören, Vermutungen anzustellen, Joe. Was ist mit Ihrem Vater? Was hat er getan?
»Wie meinen Sie das?«
»Beim Anblick der Katze. Wie hat er reagiert?«
»Na ja, Mom ließ den Karton zu Boden fallen, er kippte auf die Seite, und die Katze fiel heraus. Das Tier hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Katze, die ich in den Karton gelegt hatte, außerdem stank es, jetzt wo der Karton offen war. Mein Dad hat die Katze mit dem Deckel wieder in den Karton geschaufelt, sie nach draußen getragen und vergraben.«
»Ich meine, was Ihr Vater mit Ihnen gemacht hat, Joe?«
»Nichts.«
»Hat er Sie geschlagen?«
»Ja, er hat mich geschlagen. Ist es das, was Sie hören wollen? Er hat mir so heftig ins Gesicht geschlagen, dass ich Blutergüsse hatte. Es war das einzige Mal, dass er mich je an gerührt hat. Später an dem Tag kam er in mein Zimmer, nahm mich in den Arm und entschuldigte sich, und er versprach mir, mich nie wieder zu schlagen. Es passierte alles so plötz lich, dass ich nicht wusste, was eigentlich geschehen war. Einen Tag lang glaubte ich, er wäre wütend, weil ich ihm nicht auch eine tote Katze geschenkt hatte.«
Amy antwortet nicht. Ich lächle ein wenig. »Das war ein Witz«, sage ich. »Das mit der Katze für meinen Vater.«
Sie lächelt ebenfalls ein wenig, und jetzt denkt sie, dass da ihr Märchenprinz vor ihr sitzt. Das Problem ist nur, dass er, so wie sie das sieht, wegen mehrfacher Vergewaltigung und mehrfachen Mordes im Gefängnis sitzt. Aber wie jeder andere weiß auch sie, dass die Liebe alle Schranken überwindet. Sie ist erregt, weil ihr Märchenprinz Sinn für Humor hat – und das ist ein Pluspunkt. Frauen quatschen ständig davon, dass Humor das Wichtigste sei. Dass er wichtiger als Aussehen sei. Hoffentlich ist er auch wichtiger als der Lebenslauf. Frauen stehen auch auf Narben, aber meine Narben verwandeln eine Seite meines Gesichts in eine Halloween-Maske, und manchmal kann ich dort, wo die Kugel das Fleisch aufgerissen hat, immer noch die Hitze der brennenden Haut spüren. Ich fange an zu lächeln, aber was auch immer sich gerade zwischen uns entwickelt, wird plötzlich zunichtegemacht, als mein Augenlid beim Blinzeln hängen bleibt und es aussieht, als würde ich zwinkern. Sie runzelt ein wenig die Stirn.
»Es bleibt hängen«, sage ich. »Seit dem Unfall.« Ich greife nach oben und ziehe es herunter, und es brennt ein bisschen, dann nimmt es seinen Dienst wieder auf.
»Sie nennen es einen Unfall?«
Ich zucke mit den Schultern. »Wie sollte ich es sonst nennen? Ich habe das alles nicht gewollt.«
»Nach dieser Logik könnten Menschen, die Krebs bekom men, das auch als Unfall bezeichnen.«
»Aber ich habe keinen Krebs«, sage ich.
»Okay, Joe«, sagt sie. »Wenn Sie das alles nicht wollten, und wenn Sie sich wirklich nicht mehr daran erinnern können, was Sie getan haben, warum hatten Sie dann Detective Calhouns Pistole bei sich, und warum haben Sie versucht, sie gegen sich zu richten?«
Das ist eine gute Frage. Eine unangenehme Frage, die man mir bereits ein paarmal gestellt hat. Glücklicherweise gibt es darauf eine einfache Antwort. »Daran kann ich mich auch nicht mehr erinnern«, sage ich.
»Joe …«
»Das ist die Wahrheit«, sage ich und fasse mit meiner freien Hand erneut an mein Auge. Der Arzt hat mich gewarnt, dass das Lid für den Rest meines Lebens immer mal wieder hängen bleiben wird. Ich habe keine Ahnung, warum oder woran es hängen bleibt, und er wirkte nicht besonders gesprächig. Er schien mehr daran interessiert, wen er da behandelte und wie er es den Jungs abends in der Bar erzählen würde.
Ihr Gesichtsaudruck entspannt sich ein wenig. »Tut es weh?«
»Nur wenn ich wach bin.«
»Machen wir weiter«, sagt sie. »Haben Sie jemals wieder versucht, Ihrer Mutter ein Haustier zu schenken?«
Bei dem Gedanken daran muss ich spöttisch grinsen. »Nein. Sie hätte sich nicht darüber gefreut.«
»Ich meine ein lebendes Haustier, Joe.«
»Oh. Also, nein, dafür gilt dasselbe.«
»Haben Sie noch andere Tiere getötet?«
»Damit unterstellen Sie, dass ich John getötet habe«, sage ich.
»Sie haben John getötet.«
»Nein, der Pappkarton und der Sauerstoffmangel haben John getötet. Und die Tatsache, dass ich acht Jahre alt war, hat John getötet. Es
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