Opferzeit: Thriller (German Edition)
Gegnern der Todesstrafe.
Aber nicht für Stella.
Mit ihr hat er einen guten Fang gemacht. Begeistert. Wütend. Patent. Und, um ehrlich zu sein, ein wenig Furcht einflößend. Und wenn er schon ehrlich zu sich selbst ist – ein richtiges Prachtweib. Letzte Nacht war da diese Leere in seinem Innern – der Prozess stand vor der Tür, und am Montag wollte er demonstrieren gehen. Aber wie hätte das tatsächlich ausgesehen? Er hätte mit Leuten wie ihm selbst in der Kälte vor dem Gerichtsgebäude herumgelungert und Schilder in die Höhe gehalten, und nichts davon hätte seine Tochter wieder lebendig gemacht. Er hätte das getan, um irgendwas zu tun, völlig unbeteiligt, um sich von dem abzuhalten, was er sich eigentlich antun wollte, während er tagelang im Schlafanzug zu Hause herumhing, die Ärmel voller Ketchup- und Whiskeyflecken. Doch gestern Abend trat Stella in sein Leben. Er bezahlte den Kaffee, und sie erzählte von ihrem Plan. Es war ein großartiger Plan. Guter Kaffee und ein großartiger Plan.
Der Laster mit den Schafen biegt ab. Sie bleiben auf der Schnellstraße. Obwohl sie sich beide gestern Abend ausführlich unterhalten haben – heute Morgen ist es anders. Er platzt förmlich vor Begeisterung, aber er hat Angst, das Falsche zu sagen, Angst, dass Stella doch nicht so patent ist, wie er zunächst angenommen hat. Gleichzeitig will er sie nicht enttäuschen.
Es wird tatsächlich passieren, redet er sich immer wieder ein. Es wird tatsächlich passieren, und Joe wird sterben, und Raphael wird derjenige sein, der den Abzug drückt. Das macht Angela zwar auch nicht wieder lebendig, aber es ist auf jeden Fall besser, als zu demonstrieren. Es wird Ruhe in sein Leben bringen. Vielleicht wird das zu seiner Bestimmung werden. Es gibt noch mehr Menschen, die seine Hilfe brauchen. Teilnehmer aus seiner Gruppe. Er hat das Gefühl, das hier könnte wirklich der Beginn von etwas Neuem sein.
Er muss allerdings aufpassen, dass er nicht überhastet handelt.
»Wir sind fast da«, sagt er.
»Wann warst du das letzte Mal dort draußen?«, fragt sie.
Dort draußen heißt dreißig Fahrminuten nördlich der Stadt.
»Ist lange her«, sagt er, doch das stimmt nicht, er war letztes Jahr dort. »Meine Eltern haben da früher mal ein Wochenendhäuschen gehabt«, sagt er, »aber es ist vor Jahren abgebrannt. Ich bin mit meiner Frau und Angela im Sommer immer zum Picknicken hier rausgefahren, aber das ist ewig her. Fast zwanzig Jahre.«
Er biegt auf eine Nebenstraße ab und fährt weitere fünf Minuten durch Farmland, dann biegt er abermals ab, diesmal auf eine Schotterpiste, die nach zweihundert Metern von festgefahrenem Boden abgelöst wird, während die offenen Felder in Wald übergehen. Der Weg ist holprig, aber das ist mit dem Vierradantrieb kein Problem. Er fährt jetzt langsam. In den wenigen Kurven rutschen die Hinterräder hin und wieder von großen Baumwurzeln ab. Das hier ist fast unberührte neuseeländische Landschaft. Deswegen kommen die Leute hierher, drehen hier Filme, züchten Schafe und ziehen ihre Kinder auf. Nicht weit entfernt befinden sich schneebedeckte Berge, klare Flüsse und gewaltige Bäume.
Auf einer Lichtung hält er an. Es ist genau, wie er es ihr geschildert hat. Kilometerweit keine einzige Menschenseele.
»Wie malerisch«, sagt Stella.
»Man kann sich schnell in dieses Fleckchen verlieben«, sagt er.
Sie steigen aus dem Wagen. Es ist vollkommen windstill. Das Einzige, was Raphael hören kann, sind das Knacken des Motors und Stellas Bewegungen. Keine Vögel, nicht das geringste Lebenszeichen – sie könnten die beiden letzten Menschen auf Erden sein. Er geht zum Heck des Geländewagens und holt den Gewehrkoffer heraus. Stella fängt an, in einem Rucksack herumzuwühlen, und ordnet seinen Inhalt, bevor sie ihn sich über die Schulter wirft. Seine Frau hat das im mer mit ihrer Handtasche getan. Ihre Füße versinken ein we nig im Erdreich, während sie an dem Wagen vorbei durch die Bäume auf eine andere Lichtung zugehen, dorthin, wo das Häuschen früher stand, bis eines Tages jemand fand, es wäre ein Spaß, es in Brand zu stecken.
»Ich kann nicht glauben, dass ich nie mit einem Gewehr geschossen habe«, sagt er, und er kann es wirklich nicht glauben. Welcher Kerl wird fünfundfünfzig, ohne je mit einem Gewehr geschossen zu haben? »Das wollte ich immer mal machen«, sagt er, und er wünschte, er hätte es nicht gesagt. Damit bestätigt er nur, dass er womöglich nicht der Richtige für
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