Opferzeit: Thriller (German Edition)
dann weiß ich nicht, wann es anfing.«
Sie greift nach dem Rekorder und schaltet ihn aus. »Okay, ich denke, das reicht für heute.«
»Was ist los?«
»Sie erzählen mir schon wieder Lügengeschichten. Ich sage Ihnen was. Sie denken mal darüber nach, was Sie hier zu bezwecken versuchen, und ich komme morgen wieder, und wir unterhalten uns weiter. Okay?«
»Halt.«
»Wir haben morgen noch Zeit«, sagt sie, dann steht sie auf und klopft an die Tür.
»Ich will doch nur, dass man mir hilft«, sage ich.
»Schön.«
Der Wärter öffnet die Tür und lehnt sich ins Zimmer, um mich genau zu betrachten. Ich lächle ihn an, das volle Joe- Lächeln mit all meinen Zähnen. Mein Augenlid spannt sich ein wenig und tut weh. Dann zeige ich auch Ali mein breites Lächeln. Sie verlässt das Zimmer. Der Wärter schließt die Tür, und während ich die Wände anstarre, bleibt mein Augenlid hängen, und ich muss es mit der Hand wieder herunterziehen. Ich höre auf zu lächeln, senke den Kopf und lege ihn auf meine Arme; mein Gesicht ist nur zwei Zentimeter von der Tischplatte entfernt, und beim Atmen bleibt auf der Oberfläche eine dünne Kondensschicht zurück. Ich habe lange nicht an meine Tante gedacht, und Ali ist die erste Person, der ich von ihr erzählt habe. Ich dachte immer, bei einer Therapie würde es darum gehen, belastende Gefühle loszuwerden und seinen Schmerz zu teilen, aber bisher wurden nur eine Menge alter Wunden aufgerissen. Ich möchte nicht, dass jemand davon erfährt.
Plötzlich ist es wichtiger denn je, dass Melissa mich hier rausholt. Sollte das hier vor Gericht zur Sprache kommen, weiß ich nicht, wie ich den anderen Menschen noch in die Augen schauen kann. Auch wenn meine Mutter nicht anwesend sein und die Nachrichten nicht sehen wird, schätze ich, sie würde irgendwie davon erfahren, was ihre Schwester mir angetan hat, und sie würde mir garantiert nicht glauben.
Ali sollte besser niemandem davon erzählen, nachdem ich von hier geflohen bin.
Plötzlich bin ich froh, dass meine Mutter nicht da sein wird.
Ich tue das, was ich in letzter Zeit meistens getan habe – ich warte und versuche, mir meinen Optimismus zu bewahren. Ich versuche, nicht an meine Tante zu denken und mir eine positive Zukunft auszumalen, aber manchmal, an Orten wie diesem, fällt es einem verdammt schwer, positiv zu denken.
Kapitel 30
»Das ist Schwachsinn«, sagt Schroder.
»Sehe ich genauso. Es ist Schwachsinn«, sagt Wellington. »Das Angebot, das Sie meinem Klienten gemacht haben, bringt ihm nichts.«
»Eigentlich wollen Sie ihn doch gar nicht verteidi gen«, sagt Schroder. »Warum machen Sie es dann so kompliziert?«
»Sie haben recht, ich will ihn nicht verteidigen, aber ich gebe für ihn mein Bestes, weil das mein Job ist, und das wissen Sie. Sollten Sie jemanden umbringen, Detective, dann würde ich auch für Sie mein Bestes geben.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragt Schroder.
»Womit?«
»Mit sollten Sie jemanden umbringen .«
»Genau das, wonach es sich anhört. Wenn Sie jemanden umgebracht hätten und mich engagieren würden, dann würden Sie auch wollen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tue. Wenn ich das nicht täte, wer würde mich dann noch engagieren?«
»Okay«, sagt Schroder.
»Und überhaupt bin nicht ich es, der diese Sache kompliziert macht«, sagt Wellington, »sondern Joe.«
Beide Männer befinden sich immer noch im Verhörzimmer des Gefängnisses. Schroder hasst dieses Zimmer. Es stinkt und es ist kalt. Und deprimierend. Außerdem hat Wellington mit dem, was er gerade gesagt hat, recht.
»Er verlangt von mir etwas, das ich nicht veranlassen kann«, sagt Schroder.
»Sollten wir es trotzdem tun«, sagt Wellington, »dann läuft das den Interessen meines Klienten zuwider. Es ist ausgeschlossen, dass wir in Polizeibegleitung zu der Leiche fahren und dann die Jury davon überzeugen können, er habe nicht gewusst, wo sie sich befand.«
Schroder sieht das genauso. »Es ist ausgeschlossen, in Po lizeibegleitung dorthin zu fahren, wenn Jonas Jones anschlie ßend mithilfe seiner übersinnlichen Fähigkeiten die Leiche aufspüren will.«
Sie drehen sich im Kreis. Sie werden nicht ins Geschäft kommen. Jones wird seine Fähigkeiten, Leichen aufzuspüren, nicht zeigen können. Schroder wird seine Prämie nicht bekommen. Joe kein Geld. Und Detective Inspector Robert Calhoun wird nicht nach Hause zurückkehren. Die drei ersten Punkte sind Schroder egal, aber der vierte liegt ihm am Herzen.
Weitere Kostenlose Bücher