Opferzeit: Thriller (German Edition)
außen, und außerdem das Dach. Damit war ich ein paar Wochen beschäftigt. Allerdings war das noch nicht alles. Jeden Tag rief sie mich an, damit ich vorbeischaute … tja, bis sie genug von mir hatte.«
»Genug von Ihnen hatte?«
»Genug von mir.«
»Genug davon, dass Sie die Hausarbeit erledigten?«
»Nicht direkt«, sage ich und schaue auf die Handschellen an meinem Gelenk hinunter, auf die Armlehne, auf meine Füße, auf den Boden. Vielleicht ist dieser Anblick für Joe das Opfer schöner als vor zehn Minuten der Anblick meines Anwalts für mich, aber einen Blick auf die Vergangenheit zu werfen ist eine hässliche Sache. »Ungefähr zwei Jahre später hatte sie genug von mir.«
»Joe?«
Ich schaue zu ihr auf. »Muss ich Ihnen das alles haarklein erklären?«, frage ich sie.
Sie schüttelt langsam den Kopf und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie angewidert sie ist, was ihr jedoch nicht besonders gut gelingt. »Wollen Sie mir damit sagen, Ihre Tante habe Ihr gemeinsames Geheimnis im Tausch gegen Sex für sich behalten?«
»Eigentlich versuche ich gerade, Ihnen nicht davon zu erzählen«, sage ich. »Aber ja, so war es. Wie sie gesagt hatte, sie fühlte sich einsam. Sie hatte seit sechs Jahren keinen Mann mehr im Haus gehabt.«
»Sie hat Sie erpresst.«
»Was hätte ich tun sollen? Wenn ich nicht getan hätte, was sie verlangte, wäre sie zur Polizei gegangen, und hätte meinen Eltern von dem Einbruch erzählt. Wenn ich nicht darauf eingegangen wäre, hätte sie rumerzählt, ich hätte sie vergewaltigt. Also musste ich immer wieder dort antanzen. Ich meine, das Einzige, was mir einfiel, war, sie zu töten. Und egal, was Sie von mir halten, ich bin kein Mörder. Zumindest möchte ich keiner sein.«
»War es das erste Mal, dass Sie Sex hatten?«
»Ja.«
Sie starrt mich unverwandt an, als würde sie mich gleich fragen, ob es mir Spaß gemacht habe, um sich dann die Klamotten vom Leib zu reißen und sich über den Tisch zu beugen. »Erzählen Sie mir davon«, sagt sie.
So sehr ich will, dass sie auf Touren kommt, ich habe wirklich keine Lust, ihr von meiner Tante zu erzählen. »Warum?«
»Weil ich Sie darum gebeten habe.«
»Vom Sex selbst?«
»Erzählen Sie mir von Ihrer Tante. Davon, wie es dazu kam.«
Ich zucke die Achseln. Als wäre es keine große Sache. Als wäre es genauso alltäglich, von seiner Tante zum Sex gezwungen zu werden, wie sich über das Wetter zu unterhalten, wenn auch ein ganz klein wenig unterhaltsamer. Aber es ist eine große Sache. Etwas, das ich für lange Zeit verdrängt habe. Nachdem meine Tante gestorben war und wir ihr Haus durchsuchten, nachdem ich die Armbrust gesehen und Mom alles weggepackt hatte, wurde mir schlecht. Ja, in jener Nacht ging ich zu dem Friedhof, auf dem meine Tante begraben liegt, und kackte auf ihr Grab. Für mich war das ein Weg, mit der Sache abzuschließen. Auf diese Weise verabschiedete ich mich von einer Frau, durch die ich mich erst schlecht, dann gut und schließlich absolut mies gefühlt hatte.
»Ich hatte gerade das Dach fertig gestrichen«, erkläre ich meiner Psychiaterin. »Es war ein heißer Tag. In dem Sommer war es jeden Tag heiß, und der Himmel war blau – zumindest kam es einem so vor. Momentan haben wir ja sogar Glück, wenn wir zweimal in der Woche blauen Himmel haben«, sage ich, und mit meinem Gedanken eben lag ich richtig – von der eigenen Tante vergewaltigt zu werden ist so banal wie eine Unterhaltung über das Wetter. »Auf dem Dach habe ich mir einen fiesen Sonnenbrand geholt. Vier Tage lang hatte ich für meine Tante gearbeitet. Am fünften erlebte ich meinen Urknall, an unserem ersten gemeinsamen Samstag. Ich war auf dem Dach und …«
»Sie bezeichnen das, was passiert ist, als Urknall?«
»Wie soll ich es Ihrer Meinung nach sonst nennen?«
»Erzählen Sie weiter«, sagt sie.
»Meine Tante kam also nach draußen und rief mich zu sich. Während ich nach unten kletterte, dachte ich, sie würde mir gleich erklären, der Garten müsse ganz plötzlich gemacht oder eine Glühbirne ausgewechselt werden, oder ich hätte das Dach nicht zu ihrer Zufriedenheit gestrichen. Als ich ins Haus ging, erinnerte sie mich daran, warum ich bei ihr war«, sage ich, und ich weiß es noch, ja, ich weiß noch genau, welches Kleid sie getragen hat. Außerdem hatte sie reichlich Make-up aufgetragen. Ich kann es förmlich noch spüren, wie sich mein Sonnenbrand damals angefühlt hat, und die Aloe-Vera-Creme, mit der sie mir später
Weitere Kostenlose Bücher