Opferzeit: Thriller (German Edition)
Schroder.
»Weil es keine unschuldigen Menschen gibt?«
»Weil es so wenige davon gibt, das ist alles.«
»Kann sein. Allerdings nicht so wenige, wie Sie vielleicht glauben. Aber raten Sie mal, was die Studenten von der Canterbury University am Montag machen werden?«
Das ist nicht schwer zu erraten. »Demonstrieren«, sagt Schroder.
»Ja? Was glauben Sie: für oder gegen die Todesstrafe?«, fragt Wellington.
Schroder zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die Hälfte dafür, die Hälfe dagegen, schätze ich.«
Der Anwalt lächelt. »Weder noch«, sagt er. »Sie wollen sich einfach nur die Show ansehen. Meine Tochter sagt, der Prozess sei im Moment in sämtlichen sozialen Medien Gesprächsthema Nummer eins. Hunderte Studenten, vielleicht sogar mehr, wollen den Prozess in eine Party verwandeln. Es gibt sogar einen Wettbewerb, bei dem der Student, der am längsten in den Nachrichten zu sehen ist, eine Flasche Wodka gewinnen kann. Für eine Flasche Wodka werden sich eine Menge Studenten verkleiden und versuchen, sich möglichst vor jede Kamera zu drängen, um ins Fernsehen zu kommen. Aber das ist nicht der Grund, warum sie dorthin gehen – das ist nur eine Dreingabe. Sie gehen dahin, weil sie dadurch einen Vorwand haben, sich zu besaufen und rumzugrölen, ja, um sich so lange zu besaufen, bis sie in den Rinnstein kotzen. Sie gehen dorthin, weil sie das cool finden. Sogar meine Tochter. Joe Middleton oder die Justiz sind ihnen egal, denn sie wollen nichts weiter, als sich zu besaufen. So ist sie, diese Generation. Die Generation meiner Tochter. Irgendwie fragt man sich da schon, warum man das hier alles verdammt noch mal überhaupt tut, warum wir die Welt sicherer machen wollen, wenn das die Menschen sind, für die wir sie sicherer machen.«
»Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll«, sagt Schroder.
»Gar nichts. Es ist, wie es ist. Ich will Ihnen nur klarmachen: Wenn Sie glauben, es lässt sich verhindern, dass dies zu einem Zirkus ausartet, dann sind Sie wahrscheinlich die einzig wirklich verrückte Person, die ich kenne.«
Kapitel 31
Hätte Raphael gewusst, dass er Besuch bekommt, hätte er besser aufgeräumt. Es ist ihm peinlich, und hoffentlich glaubt Stella nicht, dass es bei ihm immer so aussieht. Allerdings sieht es bei ihm momentan immer so aus, mehr oder weniger. Für eine Weile hat er sich noch Sorgen gemacht, weil er in so einem Durcheinander hauste und sich so ungesund ernährte, doch irgendwann war es ihm dann, Gott sei Dank, egal.
»Entschuldige die Unordnung«, sagt er, aber es scheint ihr nichts auszumachen. Er vermutet, dass ihr Haus in einem ähn lichen Zustand ist, nachdem sie ihr Baby und ihren Mann verloren hat. Sie reibt sich den Bauch, als wäre sie immer noch schwanger. Ihm fällt ein, dass seine Frau das auch ständig getan hat, als sie mit Angela schwanger war. Er erinnert sich, wie er nachts mit den Händen auf ihrem Bauch neben ihr im Bett lag und die Tritte des Babys spürte, und dass seine Frau amüsiert lächelte und ihm das alles ein wenig Angst einjagte. Damals gab es für ihn kaum einen Unterschied zwischen den Tritten eines Babys und dem, was in Alien dem armen Schwein auf dem Esstisch passiert.
»Möchtest du was trinken?«, fragt er.
»Ein Wasser.«
Er geht in die Küche. Das Frühstücksgeschirr steht immer noch über die Arbeitsfläche verstreut, dazwischen die Toastkrümel einer ganzen Woche und um die Spüle herum Wasserspritzer. Er nimmt zwei frische Gläser, füllt sie mit Wasser und geht hinaus ins Wohnzimmer. Stella schaut sich die Fotos an der Wand an.
»Ist das Angela?«, fragt sie.
»Ja.«
»Und das da sind deine Enkel?«, fragt sie, während sie ein Foto mit Kindern betrachtet.
»Adelaide ist sechs«, sagt er. »Sie ist dieses Jahr in die Schule gekommen. Sie lebt in England und hofft immer noch, dass ihre Schule geheim ist wie bei Harry Potter. Hofwart, oder wie die heißt. Vivian ist vier und möchte Balletttänzerin werden«, sagt er, »und Popsängerin.«
»Wie süß.«
»Ich habe nicht die Möglichkeit, sie zu sehen«, sagt er, und er ist deswegen sauer auf seinen Schwiegersohn, darum hängen von ihm auch keine Fotos an der Wand, aber eigentlich kann er ihm keinen Vorwurf machen, dass er fortgezogen ist. »Wenn ich Glück habe, kann ich einmal im Monat mit ihnen reden.«
Stella gibt ihm eine Plastiktüte mit Kleidung, die sie den ganzen Tag im Auto herumkutschiert haben. »Probier die mal an«, sagt sie. Er zieht ein hellblaues Hemd
Weitere Kostenlose Bücher