Optimum 1
aushorchen konntest, oder?«
Keine Antwort. Das reichte Rica vollkommen. Sie schnaubte und drehte sich mühsam von Robin weg. »Und ich dachte, du bist in Ordnung.«
Er flüsterte etwas, das so klang wie: »Es tut mir leid«, aber sie drehte sich nicht noch mal zu ihm um. Langsam, mit unendlich mühsamen Schritten begann sie, den Weg entlangzugehen. Beinah hoffte sie, dass er noch einmal versuchen würde, ihr zu helfen, nur damit sie ihn wieder abweisen konnte, aber außer ihren waren keine Schritte auf dem Kies zu hören, und niemand schloss zu ihr auf. Sie konnte lediglich Robins Blicke in ihrem Rücken spüren, bis sie schließlich um eine Wegbiegung humpelte.
Noch nie war der Weg nach Hause so lang gewesen, noch nie die Stufen zum vierten Stock so viele und so anstrengend. Jetzt, wo die Wut langsam verrauchte, kamen die Schmerzen zurück. Bei jedem Atemzug schien sich etwas Spitzes in Ricas Lungen zu bohren, ihr rechter Fuß gab bei jedem zweiten Schritt unter ihr nach, und die Tränen rannen jetzt permanent über ihre Wangen. Mehr als einmal musste sie auf einem Treppenabsatz innehalten und sich gegen die Wand lehnen, damit ihr nicht schwarz vor Augen wurde und sie einfach wegkippte. Als sie endlich vor der Wohnungstür stand, merkte sie, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, in ihrer Tasche nach dem Schlüssel zu kramen. Schon allein den Finger auf den Klingelknopf zu legen und zu drücken, brauchte fast mehr Kraft, als sie noch hatte.
Etwas schrillte in ihren Ohren, grell und schmerzhaft. Rica wünschte sich, dass es aufhören würde, bis sie merkte, dass es der Klingelton war. Sie nahm den Finger vom Klingelknopf, lehnte sich neben die Tür gegen die Wand und schloss die Augen. Sie merkte gar nicht, wie ihre Knie endgültig nachgaben und sie langsam an der Wand nach unten rutschte und zum Sitzen kam.
Hastige Schritte hinter der Tür, ein Quietschen, als sie aufgerissen wurde.
»Rica!« Warum hatte ihre Mutter auf einmal so eine schrille Stimme? Fast wie die Türklingel, dachte Rica und kicherte. Es tat weh zu kichern. Kleine Splitter schienen sich dabei in ihre Brust zu bohren.
»Rica, um Himmels willen!« Hände griffen nach ihr und zogen sie hoch, und dieses Mal wehrte Rica sich nicht dagegen. Jemand führte sie, stützte sie, half ihr, bis sie schließlich etwas Weiches unter sich spürte und ihr Körper sich endlich, endlich entspannen konnte. Rica streckte sich aus und machte die Augen zu. Es hatte keinen Sinn, sie offen zu halten, sie konnte sowieso nichts mehr sehen. Irgendwo um sie herum erklang die Stimme ihrer Mutter, murmelnd und besorgt. Vielleicht war es auch nicht nur ihre Mutter. War da noch jemand anderes? Rica konnte es nicht genau sagen. Das Letzte, was sie verstehen konnte, war ein seltsamer Satz, der sich in ihr Bewusstsein fraß.
»Genau wie dein Vater, aber wirklich.«
Kapitel siebzehn
Erkenntnisse
Als sie erwachte, kam sie sich vor, als tauche sie aus einem tiefen See an die Oberfläche. Stimmen drangen in ihr Bewusstsein, aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie sie unterscheiden konnte, von Verstehen konnte keine Rede sein.
Rica blinzelte, und grelles Licht stach ihr in die Augen. Erst beim zweiten oder dritten Mal stellte sie fest, dass es gar nicht so hell war, wie sie geglaubt hatte. Mehr ein mildes goldenes Nachmittagssonnenlicht. Wieder blinzelte sie, und langsam rückte ihre Umgebung wieder in den Fokus. Sie konnte ihren Schreibtisch sehen, darüber das Fenster. Als sie ihren Kopf ein wenig drehte, verschwamm die Welt erneut, und Rica wurde übel.
Die Stimmen redeten weiter. Sie klangen wütend, so viel bekam Rica mit. Es dauerte allerdings noch einen Moment, bevor sie einen Sinn aus den Worten heraushören konnte.
»… wissen nicht, warum Sie hier sind, Frau Lentz?«
»Ich bin Lehrerin an dieser Schule, mehr nicht.« Das war ihre Mutter, die da sprach, erkannte Rica jetzt.
Ein kurzes, hämisches Lachen. Eine Frauenstimme. Rica war sich sicher, dass sie sie schon mal gehört hatte, aber sie konnte sie nicht einordnen.
»Wir wissen doch beide, warum Sie diese Stelle angenommen haben, oder? Es ist doch kein Zufall, dass Sie hier auftauchen.« Rica hasste diesen Tonfall glücklicher Überlegenheit.
Sie drehte ganz vorsichtig den Kopf zur Seite. Wieder begann das Zimmer zu schwanken, aber langsam, ganz langsam fühlte sie sich besser. Die Stimmen nebenan stritten weiter, Rica achtete jedoch nicht auf sie. Sie musste erst wieder auf die Beine kommen, bevor sie
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